Emergenz contra Reduktionismus

Von der Weltformel ohne Formel

“Das Ganze ist nicht nur mehr,
sondern etwas ganz anderes als die Summe seiner Teile.”
(Philip W. Anderson, Physiker)

Emergenz.
Was ist Emergenz?

Emergenz bezeichnet das “Auftauchen” vorher nicht vorhandener Eigenschaften bei der Verbindung oder dem Auseinanderfall qualitativ unterschiedlicher Komponenten.

So wie Kernbausteine und Elektronen sich zu Atomen verbinden, so wie die Verbindung von Sauer- und Wasserstoff Wasser ergibt, so wie die Verschmelzung elterlicher Gene ein von ihnen verschiedenes Lebewesen wachsen lässt, so machen die kognitiven Strukturen des Gehirns aus objektiven Daten Informationen, und schaffen so eine neue Qualität, die wir die geistige nennen.

Immer ist es das gleiche Prinzip der Mischung unterschiedlicher Qualitäten, das DURCH INTEGRATION ODER ZERFALL neue Qualitäten/Wirklichkeiten hervorbringt, ein Prinzip das antike Denker schon sahen und das die moderne Forschung so glänzend bestätigt hat!

Mit “Emergenz” ist weder das Auftauchen von Qualitäten aus dem Nichts gemeint, noch von Eigenschaften, die irgendwo schon immer fertig existierten.

Emergente Eigenschaften sind Qualitäten = nach außen gerichtete Wirkungen, die sich erst in einer neuen Verbindung erweisen. Sie existieren somit vorher zwar POTENZIELL – doch ohne dass die einzelnen Emergenzpartner sie besitzen! Daher ist es nicht möglich, das Emergente allein durch die daran beteiligten Wirkpartner zu erklären, wie dies die Reduktionisten versuchen, um scheinbar “alles ganz einfach zu erklären”, weil ja ETWAS NEUES entstanden ist, zum Beispiel Leben.

Die chemischen Bestandteile des Lebewesens können nicht erklären, wieso es lebt. Denn “Leben” ist ja gerade DIE ORGANISATION von Materie mit dem Ziel der Selbstreproduktion, um die Organisation zu erhalten, während der Organismus vergeht.

Leben kann nur am lebendigen Wesen erfasst werden, so wie Bewusstsein an dem, was man sich bewusst ist.

Leben und Bewusstsein kann man durch Reduktion nicht “erklären” – sie sind einfach da! Doch natürlich kann man versuchen, ihre Natur und ihre Geschichte zu erforschen. (Aber alle Anfänge liegen im Dunklen.)

So wenig wie die Hinzunahme eines “Schöpfers” wissenschaftlich etwas erklärt, wenn man ihn nicht als Metapher des schöpferischen Prozesses selbst versteht, so wenig ist jener Reduktionismus in der Wissenschaft hilfreich,
der in seiner materialistischen Doktrin ALLE Phänomene rein materiell “zu erklären” versucht.

Wenn heute immer wieder gesagt wird das Bewusstsein sei noch nicht “erklärt”, heißt das im Klartext: es ist noch nicht rein materiell erklärt. Wir sollten uns da nicht bluffen lassen. Wer dem Geistigen seine ihm eigene Qualität bestreitet, wer wie ein Autist nichts von einer Rolle des Beobachters wissen will, weil er hoffnungslos betriebsblind ist, bestreitet auch das, was das Menschsein ausmacht:

Kultur, Zivilisation, Weisheit und Würde.

Es ist ja nicht der einzige Irrweg von Physikern, das Bewusstsein gleich auch noch quantenmechanisch “erklären” zu wollen, was für mich nicht nur ein mangelndes Verständnis des Bewusstseins, sondern auch eines der Quantenphysik beweist, die ja keine Theorie ist sondern nur aufzeigt, wie mit dem WISSEN über Quanten möglichst objektiv umzugehen ist.

Auch die Suche nach den kleinsten Teilchen der Materie durch immer weitere, immer teuere Zerlegung ihrer Komponenten – die jedoch nur Aktivitätsmuster von Energien sind, die in Sekundenbruchteilen wieder vergehen – gehört zum reduktionistischen Programm in der Hoffnung, einmal mit dem Allerkleinsten ALLES “erklären” zu können. Dann wäre für Materialisten der Materialismus endgültig “bewiesen”.

Doch nur einfache Gemüter kann diese Einfachheit befriedigen.

Immer wenn Physiker etwas “zu erklären” versuchen, was eigentlich klar ist, passen ihnen irgendwelche Fakten nicht –
seien es Messergebnisse oder nichtmaterielle Phänomene.  Aber auch die “materiellen” Phänomene sind nur von uns als “materiell” eingestufte Phänomene und nicht Sachen. Wir sollten aufhören, uns von einem solchen besserwisserischen Tun beeindrucken zu lassen.

Bringt der Urgrund aller Erscheinungen durch Emergenz die Phänomene des Daseins hervor, so ist er selbst eben nichts von allen. Daher sollten wir es unterlassen, ihn als “materiell” “lebendig” oder “geistig” einzustufen.

“DAS NAMENLOSE ist der Ursprung des Himmels und der Erde.” (Laotse)

Um zu einem echten Verständnis der Welt zu kommen, hilft nur, in die jeweilige Daseinsebene hinein zu gehen und sie ohne Wenn und Aber zu akzeptieren. Wir sollten daher nicht einen Anti-Geist pflegen wollen, der echten Geist und echte Gefühle zu reduzieren versucht.

Nicht nur in Politik und Wirtschaft sollten wir global denken. Auch in der Wissenschaft sollten wir ALLEN Phänomen der Welt aufgeschlossen gegenübertreten und sie in Liebe verstehen wollen. Nur so bleiben wir in der Fülle des Seins!

Merke:

Emergenz ist der immanente Schöpfungsprozess, durch den sich die Fülle des Daseins ganz natürlich ergibt. Eine emergente Sichtweise nimmt weder den Dingen etwas, noch gibt sie ihnen etwas von außen dazu. EMERGENZ IST DIE WELTFORMEL OHNE FORMEL, die uns den phänomenalen Reichtum des Erlebens verständlich macht.

Emergenz bezeichnet das Wirken eines universellen Potenzials, das für unseren, an den Phänomenen geschulten Verstand transzendent ist. Aber natürlich ist niemand daran gehindert, Emergenz als Ausdruck oder Ausweis einer höheren Weisheit zu verstehen, wenn ihm eine solche Annahme für sein Dasein sinnvoll erscheint. Sich selbst IN EINS mit dem größten Ganzen zu sehen, ist allemal erhellend.

Laotse beschrieb im Sechsten Spruch das IMMANENT schöpferische Prinzip – seine “Gestaltunsgabe”, wie es in der Übersetzung heißt -, das dem deterministisch-linearen Denken so viele Probleme macht, da sehr viel kürzer:

“Das Urseiende wandelt sich nicht.
Es ist das Ewig-Mütterliche.
Des Ewig-Mütterlichen Gestaltungsgabe
ist der Ursprung von Himmel und Erde.
Stetig gebärend bedarf es nie der Befruchtung.”
(Laotse)

 

Helmut Hille

Helmut Hille

Helmut Hille ist freier Autor und lebt in Heilbronn. Schwerpunkt seiner Arbeit sind erkenntniskritische Studien. Er ist Mitglied der Deutschen Physikalischen Gesellschaft e.V. (DPG) und war Gründungsmitglied und lange im Vorstand der Gesellschaft für Kritische Philosophie (GKP), Nürnberg, die in ihrer Zeitschrift “Aufklärung und Kritik” 14 Arbeiten von ihm  veröffentlichte. Von 1955 bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1984 war er ebenfalls Mitglied der Keyserling Gesellschaft für Philosophie.

Website: www.helmut-hille-philosophie.de
Weitere Literatur auch hier: WEGE DES DENKENS