Wie wir das Gute im anderen hervorrufen?
Tagungsvortrag vom 19.11.1987
Wir können nur etwas hervorrufen, was schon da ist, was schon existiert, doch noch nicht oder nicht immer sichtbar ist. Und so ist es tatsächlich. Das Gute ist immer und überall da. Wir sind umgeben vom Guten. Es ist in jedem Menschen: in Dir und in mir.
Warum ist das so? Weil es nur ein Leben gibt und dieses Leben vollkommen ist. Es drückt sich in einer Vielfalt von Formen aus. Jeder einzelne von uns ist ein einzigartiger Ausdruck dieses einen Lebens und im innersten Lebenskern vollkommen und bereits gut. Und durch dieses eine Leben sind wir alle miteinander verbunden, etwa so, wie wir miteinander verbunden sind durch die Luft, die wir atmen. Jeder von uns atmet ein und aus in einem individuellen Rhythmus. Doch wir sind alle gemeinsam angeschlossen an die Atmosphäre, die uns durch den Atem in dieser physischen Lebensform erhält. Wir würden nie¬mals auf den Gedanken kommen zu sagen: «Dies ist meine Luft, die ist für mich, und das ist deine Luft, die ist für dich.» Es ist doch so selbstverständlich für uns, Atem zu schöpfen aus einer unerschöpflichen, allen zugänglichen Quelle.
Das Gute ist in uns allen. Aber warum erleiden wir Leid und Schmerz in Beziehungen zu unseren Mitmenschen? Oft ist das Gute in uns noch verdeckt, eingewickelt, verborgen durch Nichtwissen um diese Vollkommenheit und durch das Nichtwissen um unsere Einheit mit allem Leben. Darum fühlen wir uns allein und sind geneigt, aus Angst voreinander zu kämpfen, wenn andere Menschen anders denken, fühlen und handeln als wir selbst. Der Sinn unseres Lebens ist, die Wahrheit über uns selbst immer mehr zu erkennen und endlich die vollkommene Einheit allen Lebens zu erleben.
Und wie rufen wir nun das Gute im anderen hervor? Hierzu können wir als erstes fragen: «Wer ist der andere?» Und die Antwort lautet: «Der andere bin ich.» Denn über die Einheit allen Lebens bin ich mit ihm verbunden, mit ihm eins. Das heißt aber auch, ich kann nichts tun, denken und fühlen, was nicht auch eine Wirkung auf meine Mitmenschen hat – im konstruktiven wie auch im destruktiven Sinn. Und auch Du kannst nichts tun, was nicht eine Wirkung auf Deine Mitmenschen hat. Wir müssen bei uns selbst beginnen. Wir müssen uns klären. Das ist der einzige und der sicherste Weg.
Da wir praktisch vorgehen wollen, ist es sicher hilfreich, uns durch einige Fragen in der Selbstbetrachtung zu üben. Wie denkst Du über Dich? Bist Du Dir Deiner Würde als ein Teil des göttlichen Lebens bewußt? Denkst Du daran, daß Du die Möglichkeit hast, alle göttlichen Eigenschaften (wie Harmonie, Ruhe, Frieden und Liebe) in Dir und durch Dich zum Ausdruck zu bringen, wenn Du Dich dafür entscheidest? Oder glaubst Du noch, daß Du von den äußeren Erscheinungen dieser Welt abhängig seist? Daß Du Opfer Deiner Umgebung, der äußeren Umstände seist? Wenn Du von Dir selbst das Höchste und Beste glaubst, akzeptierst Du das auch von anderen? Denkst Du daran, daß alles, was Du von einem anderen Menschen denkst und fühlst, auch für Dich wahr werden kann? Und liebst Du Dich wirklich? Magst Du Dich so, wie Du im Moment sein kannst? Kannst Du Dir vergeben? Liebst Du den anderen, Deinen Nächsten, egal wie er sich im Moment zum Ausdruck bringen kann? Kannst Du ihm vergeben?
Im Umgang mit anderen spiegelt sich immer unser eigenes Bewußtsein. Wenn wir geklärt sind, mit uns selbst in Frieden und Harmonie, spiegelt sich das in allen unseren Beziehungen wider. Wie sieht das nun in unserem täglichen Leben aus, an dem Platz, an dem wir stehen und wirken? Andere werden immer durch unser Beispiel, durch unsere Einstellung und durch unsere Lebensführung motiviert. Wir können unserer Pflicht nachkommen, denen zu helfen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Zum Beispiel unseren Kindern oder Menschen, die uns auf andere Weise anvertraut sind. Durch unser Vorleben lernen sie Achtung vor jedem Lebewesen, Weisheit im Umgang mit anderen, Pflichtgefühl und Sorgfalt in der Handhabe des täglichen Lebens.
Wenn wir getan haben, was nötig ist, dürfen wir jeden Menschen in Liebe dem Leben überlassen, wenn wir selbst das Bild seines vollkommenen Wesens in uns tragen. Wenn wir selbstlose Liebe leben können, manipulieren wir unsere Mitmenschen nicht mehr. Wir greifen nicht mehr in ihr Leben ein, sondern lassen sich die Dinge auf natürliche Weise entwickeln, auch wenn sie sich ganz anders entwickeln sollten, als wir es uns wohl gewünscht hätten. Denn können wir wissen, was für den einzelnen vom Leben vorgesehen ist und welche Lernschritte jeder von uns zu gehen hat? Daraus ergibt sich, daß es uns nicht zusteht, über andere zu urteilen, egal was ein Mensch getan oder wie er sich verhalten haben mag.
Inge-Maria Knemeyer
Inge-Maria Knemeyer ist Krankengymnastin und Lebensberaterin und war viele Jahre Lehrbeauftragte und Gruppenleiterin in CSA.