Der Gecko und die Motte

Gedanken über Täuschung, Bereitschaft und Befreiung

An einem Abend in einem Häuschen auf La Palma saßen meine Partnerin und ich beim Essen und hörten ein leises Klopfen am Fenster. Wir blickten auf und sahen einen Gecko*, der sich schnell und ruckartig über die Scheibe bewegte und dabei dieses Klopfen verursachte, was ungewöhnlich für die sich sonst lautlos bewegenden Tiere ist. Beim näheren Hinsehen entdeckten wir, daß der Gecko ein Insekt jagte. Er machte viele Anläufe, um es zu erwischen.

* Der Gecko ist eine kleine Echse, die in südlichen Ländern heimisch ist. Er kann sich durch rundliche Haftzehen an seinen Füßen auch auf glatten Unterlagen und kopfüber an der Decke bewegen.

Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte es nicht bekommen und schlug mehrfach, als wäre er ärgerlich, mit seinem Schwanz auf die Scheibe. Warum nur? Ich stand auf und ging zum Fenster. Jetzt sah ich genauer: das Insekt war eine Motte, die außen am Fenster saß und sich dort bewegte, während der Gecko innen am Fenster war und weiterhin vergeblich versuchte, die Motte zu seinem Abendessen zu machen.

Er tat uns leid, der niedliche Gecko, der immer wieder mit seinem Schwanz aufgeregt auf die  Fensterscheibe klopfte, während er die Motte anstarrte, die ihrerseits vergeblich versuchte, an das Licht, die Kerzenflamme auf unserem Tisch zu gelangen.

Der Gecko und die Motte – sie regten uns an diesem Abend an, über Wahrnehmung und Täuschung der Sinne, über Wirklichkeit und Wahrheit zu philosophieren. Die beiden Tiere, die zwar das Glas, aber nicht seine Tücke durchschauen können, wurden für uns zu einem Symbol für die menschliche Wahrnehmung in ihrer begrenzten Form.

  • Bewegen wir uns nicht auch auf einer Grundlage, die wir oft nicht durchschauen können?
  • Halten wir manchmal an der Sichtweise fest, daß die Welt um uns die (einzige) Wirklichkeit ist? Und durchschauen dabei nicht, daß sie die Welt der Wirkungen ist, die von tieferen, für die äußeren Sinne nicht wahrnehmbaren Ursachen bedingt wird?
  • Versuchen wir manchmal, etwas im Äußeren zu verändern, und es gelingt uns nicht, weil wir versäumen, die Ursachen im Innern wahrzunehmen und diese zu verändern?

Bereitschaft und innere Befreiung

Der Gecko und die Motte haben ihre vergeblichen Versuche irgendwann an diesem Abend eingestellt. Ihre Möglichkeiten sind begrenzt, und sie müssen vor diesen Grenzen “kapitulieren”. Doch unsere Möglichkeiten sind nicht begrenzt. Denn wir sind nicht nur physische Wesen, sondern spirituelle, die aus einer unbegrenzten Welt stammen. Wenn wir das einmal, wenn auch nur ansatzweise, erkannt haben, wenn wir verstanden haben, daß unsere Sinne und unsere bedingten Vorstellungen von der Welt uns täuschen, können wir unsere Freiheit der Wahl nutzen und uns dafür entscheiden, aufzuwachen und Befreiung von der Täuschung der Sinne, von Unwissenheit und Leid zu erlangen. Was setzen wir für die innere Befreiung ein? Das ist immer wieder die entscheidende Frage. Wie stark ist die eigene Bereitschaft, nicht bei dem jetzigen Stand der Erkenntnis stehenzubleiben, sondern weiterzugehen? Wenn wir uns nicht immer wieder neu aufmachen und uns für Befreiung einsetzen, dann hält uns die Macht der Gewohnheit und Bequemlichkeit in ihren Fesseln gefangen und die Ablenkungen und Verlockungen der Zivilisation können uns von unserem selbst fortführen. Die göttliche Intelligenz in uns ist immer bereit, uns zu unserem selbst zu führen und uns zu antworten; sie wartet geduldig auf unsere Bereitschaft und unsere Fragen.

Anregungen

Hier sind einige Empfehlungen und Anregungen für Dich, wenn Du Bereitschaft spürst, in Deiner Selbst-Erkenntnis und inneren Befreiung weiterzugehen. Spüre nach, was Dich davon anspricht und setze es Schritt für Schritt um.

  1. Deine Möglichkeiten sehen und nutzen

Schreibe Dir auf, welche Möglichkeiten Du bereit kennst und hast, Dich für innere Befreiung einzusetzen und die innere Wirklichkeit des Seins zu erleben. Damit meine ich zum Beispiel Meditation, Studium von Weisheitsliteratur, Kontemplation, Bewußtseinsarbeit, Gebet, Rituale  u.a.m.. Ergänze diese “Liste Deiner Möglichkeiten”, immer dann, wenn Dir noch etwas von Deinen Möglichkeiten einfällt oder Du Dir eine neue aneignest. So machst du Dir bewußt, und es wird für Dich erneut ganz konkret, daß Du ein Mensch der Möglichkeiten bist. Entscheide Dich, wenigstens eine dieser bisher vielleicht wenig genutzten Möglichkeiten in Deinem Alltag konsequent anzuwenden und lebendig werden zu lassen. Es gibt viele Möglichkeiten, die nicht einmal ein Mehr an Zeitaufwand bedeuten, sondern allein eine Sache der Aufmerksamkeit und Bereitschaft sind, wie zum Beispiel bewußtes Atmen oder Erinnerung an das Ich-Bin. Wenn Du neue Möglichkeiten kennen lernen möchtest, dann lies ein Buch über Selbst-Aktivierung oder innere Befreiung und Besucher ein entsprechendes Seminar oder treffe Dich mit Menschen, die den Weg des Erwachens gehen.

  1. Verbinde Dich aktiv mit der göttlichen Intelligenz

Welchen Zugang Du auch immer zu der göttlichen Intelligenz hast und wie Du sie nennst, verbinde Dich aktiv auf Deine Weise mit ihr. Bete oder bejahe oder spreche mit ihr. Verwende ein Ritual oder was immer Dir eine Zugangsmöglichkeit ist: sei aktiv, wer auf die Weisheit und Liebe in Dir und um Dich zu; öffne Dich und sei empfänglich, dann gibst Du der göttlichen Intelligenz und Dir die Chance, daß Du sie verstehst, ergänzt oder erlebst.

  1. Laß Deine Herausforderung zu Deiner Förderung werden

Genau die Herausforderung, der Du Dich gerade gegenüber siehst, ist Deine gegenwärtige Chance, größere Freiheit zu erlangen. Wenn Du bereit bist, diese Herausforderung von einem neuen Blickpunkt anzuschauen, kann sie zu Deiner Förderung werden. Dazu ist es erforderlich, Deinen gegenwärtigen Blick- oder Standpunkt loszulassen und Dich für einen anderen oder höheren zu öffnen. Mache dies aktiv, zum Beispiel indem Du mit Entschiedenheit laut sagst: “Ich bin bereit, die Förderung in meiner Herausforderung zu erkennen.” Spüre ehrlich in Dich hinein und nehme war, wie bereits Du bist oder ob Dich etwas daran hindert. Falls Dir Hindernisse bewußt werden, kannst Du Deine Möglichkeiten nutzen, sie zu klären oder zu überwinden.

Wenn Deine Herausforderung mit einem anderen Menschen zu tun hat, kannst Du Dir folgende Fragen stellen:

  • Was spiegelt mir dieser Mensch? D.h. sind seine Seiten, mit denen ich Schwierigkeiten habe, auch Seiten von mir, die ich noch nicht deutlich wahrnehmbar oder die ich nicht wahrhaben bzw. annehmen will?
  • Was zeigt mir dieser Mensch, was ich bisher nicht gesehen habe?
  • Was kann ich durch diesen Menschen lernen?
  • Kann ich diesen Menschen in mein Gebet einbeziehen?
  • Entsprechende Fragen kannst Du auch für Situationen (Stadtmenschen) stellen.
  1. Sabbat-Zeit – freie Tage für Befreiung

Nimm Dir besondere Zeiten für Deine innere Befreiung, widme ihr zum Beispiel einen halben oder ganzen Tag oder mehrere Tage, sobald oder so oft Du willst und kannst. Ich nenne diese bewußten Zeiten für die Befreiung einer alten Tradition gemäß Sabbat-Zeiten oder auch manchmal “Geschenktage”. Ich verstehe diese Zeiten als ein Geschenk, das ich meinem innersten Sein mache. An diesem Tag laß Deine Aufmerksamkeit so intensiv wie möglich zudem gehen, was Du als förderlich für die innere Befreiung oder als “heilig” ansiehst. Es geht an einem solchen Sabbat-Tag nicht darum, etwas im äußeren zu erreichen, sondern bewußt zu sein und zu handeln, also Achtsamkeit zu praktizieren. Dabei kannst Du auch die einfachsten Tätigkeiten wie gehen, greifen, Essen usw. sehr bewußt und langsam ausführen. Du kannst “Deine Liste der Möglichkeiten” (siehe Punkt eins) nutzen um zu sehen, welche Schritte Du konkret an einem solchen Sabbattag gehen willst. Laß dich von Deinen Erkenntnissen und von Deiner Intuition führen. Schenke der Kraft der inneren Erneuerung Deine Zeit und Deinen Einsatz. Sie wartet darauf, von dir eingeladen, angenommen und genutzt zu werden. Es liegt an Dir, daß Du Dich für sie öffnest und einsetzt. Es lohnt sich. Sabbat-Zeiten wirken wie Lichtstrahlen, die Deinen Alltag erhellen.

Zum Schluß noch einmal zurück zu dem Gecko und zu der Motte: bei meinem Betrachtungen fiel mir ein, wofür diese Tiere Symbole sein können: Der Gecko steht für den freien Geist in uns, der die Grenzen der Schwerkraft überwindet, der über alle Halt findet und sich bewegen kann, sogar kopfüber an einer Decke. Die Motte steht für das Wesen in uns, das zum Licht will und im Licht seiner Heimat findet, daß auch die Bereitschaft in uns nährt, durch die Flammen der Läuterung und Hingabe zu gehen, um zur Wahrheit zu gelangen, die uns frei macht.

 

Günter Alfred Furtenbacher

Günter Alfred Furtenbacher

Günter A. Furtenbacher war als Seminarleiter (viele Jahre gemeinsam mit Rosemarie Schneider-Bassett), Coach und Therapeut tätig. Heute lebt er in Ruhestand mit seiner Partnerin nahe der Wachau (Niederösterreich) und übt sich in der Kunst der Gelassenheit.