Ein Interview von Ron Nelson mit Barry Neil Kaufman


Barry, du und deine Frau Susi, nennt eure Lehre den Option Process. Was versteht ihr darunter?

Wir verstehen darunter einen völlig urteilslosen Zugang zum persönlichen Wachstum, der Menschen dabei hilft, ihren Problemen ins Angesicht zu schauen und sich selbst als ihre beste Quelle zur Lösung dieser Probleme anzunehmen.

Unser Zugang gründet auf der Haltung vollkommenen Annehmens, die wir mit dem Satz beschreiben: »Lieben heißt mit jemandem glücklich sein.« Dies bedeutet: du entscheidest dich, einen anderen Menschen und natürlich auch dich selbst zu lieben, indem du einfach glücklich mit ihm bist, so wie er gerade ist, ohne ihn in irgendeiner Weise verändern zu wollen. Natürlich kannst Du den Wunsch haben und versuchen, anderen zu helfen, das zu sein, was sie für sich selbst sein wollen. Dies ist der eigentliche Inhalt dessen, was wir in unserem Institut leben und lehren, ungeachtet dessen, ob wir mit einzelnen Menschen, Gruppen oder Familien umgehen.

Wie hat sich der Wachstumsprozeß in bedingungsloser Liebe bisher auf dein Lehen ausgewirkt?

Für meine Frau Susi und mich ist er ein wunderbares und erkenntnisreiches Geschenk geworden, das wir dazu verwendet haben, uns selbst und unser Leben umzuwandeln (sogar im Angesicht einer Tragödie) und anderen dabei zu helfen, das gleiche zu tun. Ich wundere mich, daß etwas so Einfaches so mächtige Ergebnisse hervorbringen kann.

Schließt der Option Process eine spirituelle Kraft ein, die ihm zu einer solchen Wirksamkeit verhilft?

Nach meiner Meinung ist die glückliche und bedingungslose Liebe mir selbst und anderen gegenüber das gleiche, wie Gott zu lieben. Wenn ich mich dafür entschieden habe, Gott wirklich in mein Herz zu nehmen, Gott zu lieben, welcher Art ist dann mein Bewußtsein? Ich nehme mich dann selbst an und verurteile weder mich selbst noch irgend jemand anderen. Ich werde dann einfach bedingungslos lieben. Es gibt eine wunderbare Geschichte die dies verdeutlicht. In einem Teil des Alten Testamentes, der in den Schriftrollen am Toten Meer entdeckt wurde, gibt es eine andere Version jener Stelle, als Moses die zehn Gebote von Gott erhält, eine Version, an die wir bisher nicht gewöhnt sind. In dieser Übersetzung sagt Gott zu Moses auf dem Berg Sinai: wenn du mich in dein Herz nimmst, wird folgendes geschehen: du wirst nicht töten, du wirst nicht stehlen, du wirst keinen Ehebruch begehen, du wirst deine Mutter und deinen Vater ehren usw. Nach dieser Version waren es keine Gebote, sondern Beschreibungen dessen, wie jemand handeln würde, wenn er wirklich Gott in sein Herz hineinnehmen würde. Und so sind wir tatsächlich, wenn wir uns selbst und andere bedingungslos lieben.

Wie kam es dazu, daß du und deine Frau bedingungslose Liebe lernten und lehrten?

Wir lebten Nahe von New York City, wo ich eine Werbeagentur betrieb. Obwohl ich in finanzieller Hinsicht sehr erfolgreich war, fühlte ich mich ärgerlich, verwirrt und elend. Aufgrund dessen litt ich auch häufig an Kopfschmerzen, die mich manchmal buchstäblich blind machten. In meiner Verwirrung und in meinem Unglück suchte ich Antworten außerhalb meiner selbst, vor allem indem ich Kurse über sehr viele verschiedene Themen besuchte.

Eines Tages traf ich einen Universitätsprofessor, der ein sehr bedeutender Lehrer für mich und Susi geworden ist. Obwohl ich zugeben muß, daß er keineswegs so ausschaute. Er hatte ein enormes Übergewicht, und er war Kettenraucher. Außerdem schien er süchtig nach Mineralwasser zu sein.

Aber er hatte ein außergewöhnlich kindliches und schelmisches Verhalten. Als ich ihn einmal fragte, warum er so ausschaute und sich so verhielt, lachte er und sagte: »Wenn ich so aussehen würde, als wäre ich ein ganz besonderer, vollkommener Mensch, dann würde das, was ich sage und lehre, für die meisten Menschen unannehmbar scheinen.«

Nun ich war von seinen Lehren sehr angezogen, insbesondere davon, die Lösungen für meine Probleme in mir selbst, anstatt draußen in der Welt zu suchen. Über einige Jahre hinweg lehrte er Susi und mich, daß jeder von uns, das Geschöpf seines eigenen Glaubens ist. Und wenn wir unsere Glaubensvorstellungen ändern, können wir auch unsere Person damit verändern. Und wir lernten dies zu tun. Der Option Process gründet auf seinen Lehren. Und aus einem Gefühl der Dankbarkeit für seine Hilfe bei unserem Wandlungsprozeß begannen wir, selbst diese Lehre anderen weiterzugeben.

Du bist bekannt geworden durch deine Arbeit mit deinem Sohn Raun und mit anderen autistischen Kindern. Du bist bekannt durch Fernsehen und dein Buch »Son-Rise« (deutsch: »Ein neuer Tag«, DVA Stuttgart; vergriffen, Neuauflage vorgesehen). Nun, was ist Autismus, und wie behandelst du ihn?

Autismus ist ein Begriff, der auf Kinder angewandt wird, die sich vollkommen in sich selbst zurückziehen. Sie sind buchstäblich in ihrer eigenen Welt eingekapselt. Sie haben keinen Augenkontakt und keine Kommunikation mit anderen Menschen. Sie verbringen endlose Stunden darin, sich im Kreise zu bewegen, vor und zurückzuschaukeln und mit ihren Fingern vor ihren Augen hin- und herzutanzen. Sie werden als funktionell zurückgeblieben betrachtet, und ihr Intelligenzquotient beträgt 30 oder weniger. Gewöhnlich entwickeln sie auch keine Sprachfähigkeiten. Außerdem werden sie als unheilbar und nicht erziehbar angesehen.

Diese Beschreibung eines autistischen Kindes traf genau auf unseren Sohn Raun zu, als er gerade ein Jahr alt war. Als Susi und ich Rauns Zustand erkannten, gingen wir auf die Suche nach medizinischer Hilfe überall in unserem Land. Doch uns wurde keine Hoffnung gemacht, daß Raun sich jemals zu einem normalen Menschen entwickeln würde, und es wurde uns geraten, ihn in eine Anstalt zu geben. Doch während unserer Suche sahen wir, wie so viele autistische Kinder auf eine unglaublich unmenschliche Weise behandelt wurden, daß es für uns das letzte gewesen wäre, Raun in eine Anstalt zu geben. So entschieden wir uns, ihm selbst zu helfen, indem wir die Haltung bedingungsloser Liebe, die wir in unserem Option Process lehrten, ihm entgegenzubringen und in unserem gemeinsamen Leben anzuwenden.

Wie seid ihr nun mit Raun umgegangen?

Susi und ich waren für mehr als drei Jahre, zwölf Stunden täglich und sieben Tage in der Woche immer mit Raun zusammen, um auf vielfältigste Weise ihn wissen zu lassen. daß er in Ordnung ist und daß wir ihn lieben, so wie er ist. Statt zu versuchen, ihn unserer Welt anzugleichen, welches der Zugang ist, den wir in den meisten von uns besuchten Anstalten beobachteten, begegneten wir ihm in seiner Welt. Wenn er endlose Kreise vor sich hinspann und tanzte, dann taten wir dies mit ihm. Wenn er stundenlang seine Finger vor seinem Gesicht hin und her bewegte, taten wir das gleiche. Wenn er uns davonstieß und unsere Zuneigung mißhandelte, liebten wir ihn, ohne ihn zu berühren. Allmählich beobachteten wir, wie dieser stumme, vollkommen uninteressierte kleine Junge sich in einen weltoffenen und höchst sprachbegabten jungen Mann entwickelte, der einen Intelligenzquotienten von 150 aufwies. Heute befindet er sich in der 9. Klasse einer öffentlichen Schule. Er war ein Einser-Schüler für fünf Jahre und so interessiert am Leben, daß du niemals glauben würdest, er wäre einmal als ein klassisch autistisches Kind eingestuft worden.

Wie siehst du nun diesen Umwandlungsvorgang im Lichte der traditionellen medizinischen Meinung,  daß Autismus unheilbar sei?

Ich denke, daß Raun sich selbst geheilt hat. Susi und ich haben ihn sozusagen zu einer neuen Geburt verholfen, indem wir ihm eine sichere, liebenswerte Umgebung gegeben haben, die ihm ermöglichte, seine eigenen heilenden Antworten zu suchen und zu finden. Du weißt, wir leben in einer Kultur, in der es heißt: frage den Arzt, frage den Rechtsanwalt, frage den Lehrer, frage den Präsidenten, aber frage nicht dich selbst, da du nichts weißt. Was wir mit Raun taten und jetzt mit anderen Menschen tun, die enorme Probleme haben, besteht darin, ihnen zu helfen, ihre eigene persönliche Wahrheit aus den Händen anderer entgegenzunehmen und für sich selbst verantwortlich zu werden.

Eines meiner Lieblings-Zitate ist die folgende Aussage, die Jesus zugeschrieben wird: »Das Reich Gottes ist in dir.« Man hört dies sehr oft. Doch die meisten von uns rennen weiterhin umher und suchen die Antworten für ihre Probleme außerhalb von sich selbst. Meine Erfahrung ist nun, daß wir diese Umgebung bedingungsloser Liebe erschaffen können, in der wir unsere eigenen Antworten finden. Diese helfen uns viel mehr, unsere eigene Kraft zu nutzen und unsere Heilkraft anzuwenden, als irgendeine äußere Antwort.

Nachdem du Raun geholfen hattest, hast du erfolgreich mit vielen anderen Kindern gearbeitet, die an Autismus oder anderen schwerwiegenden Problemen gelitten hatten.

Ja, wir taten dies mit den Kindern und auch mit den Eltern. Tatsächlich besteht ein bedeutender Teil unserer Tätigkeit in der Zusammenarbeit mit den Eltern und den Geschwistern – ebenso wie mit dem jeweiligen Kind. Wir haben herausgefunden, daß die Eltern oftmals die beste Hilfsquelle der Kinder sind, nicht nur für deren Einsicht und Verstehen, sondern auch für ihren Antrieb, für ihre Bestimmung und ihre Hingabe, die sie dem Kind und seinen Problemen entgegen bringen. Dies ist grundlegend für wirkliche Veränderung und Heilung.

Doch das Wichtigste, das wir bereitstellen können, ist eine liebende, annehmbare und glückliche Umgebung für das Kind.

Kannst Du mir dafür ein Beispiel geben?

Ja. Vor einigen Jahren kam ein Frau Namens Paula auf mich zu, wegen ihrer jungen Tochter Mimi, die der erste Mensch in der medizinischen Geschichte zu sein schien, der magersüchtig geboren wurde, das heißt, ohne das Bedürfnis oder den Willen zu essen und am Leben zu bleiben. Als Paula dies von ihrer Tochter entdeckte, war sie natürlich sehr besorgt und suchte einen Arzt auf, der Mimi unverzüglich in ein Krankenhaus steckte. Für die nächsten vier Jahre erhielt dieses enorm untergewichtige kleine Mädchen die bizarrste Folge von medizinischen Behandlungen, die man sich nur vorstellen kann: Sie wurde intravenös ernährt. Für diese Zwangsernährung hatte sie auch eine Röhre unter ihrer Zunge. Außerdem hatte sie eine operativ eingeführte Röhre an ihrer Seite, die direkt in ihren Magen führte. Und für all diese Zeit wehrte Mimi alle Versuche ab, sie zu ernähren. Es war, als ob sie irgendwie genau wüßte, was das Beste für sie wäre. Aber keiner wollte es ihr glauben. Schließlich empfahlen die Ärzte, daß Mimi in ein Pflegeheim gebracht werden sollte, wo man annahm, daß sie bald sterben würde.

Zu diesem Zeitpunkt hörte ihre Mutter Paula von unserem Institut und fragte, ob wir ihr helfen könnten. In unserem ersten Interview erkannte ich, daß Paula vollständig darauf aus war, Mimi zum Essen zu bringen und sie am Leben zu erhalten, wie es jede andere Mutter tun würde. Und ich sagte ihr, wenn wir überhaupt Mimi helfen könnten, dann liegt die Möglichkeit darin, sie nicht zum Essen zu zwingen. Wir sind nur darin interessiert, Mimi dabei zu helfen, was sie selbst wolle. Und wenn das bedeuten würde, nicht zu essen und dadurch zu sterben, war dann Paula als ihre Mutter vorbereitet, dies zu akzeptieren? Mit anderen Worten, war es in Ordnung für Paula, wenn Mimi nicht essen würde? Nun Paula war nicht bereit, dies zu akzeptieren, aber sie war offen dafür, zu lernen, wie sie dies annehmen könnte. So kamen Paul und Mimi in unser »Option Institut«. Als ich Mimi zum ersten Mal sah, schaute sie wie eine kleine Puppe aus, ungefähr halb so groß, wie es ihrem normalen Alter entsprechen würde, mit einem eingesunkenen Kinn und dunklen Ringen unter ihren Augen. Sie sprach nicht und nahm an unserem Leben in keiner Weise teil. Sie war einfach nicht verfügbar. Für drei oder vier Wochen arbeiteten wir mit Mimi damit, daß wir ihr eine Umgebung der bedingungslosen Liebe und der urteilslosen Begegnung bereitstellten. In der Zwischenzeit fuhr Paula damit fort, Mimi mit Zwang zu ernähren. Bald zeigte sich, daß Mimi erkannte, daß sie zum erstenmal mit Menschen zusammen war, die sich nicht dafür interessierten, sie zwangsweise zu ernähren. So begann sie, uns entgegenzukommen, während sie ihre Mutter buchstäblich beiseite drückte.

Zur gleichen Zeit hatte ich Gespräche mit Paula. Sie kam allmählich zu dem Glauben, daß sie Mimi entscheiden lassen sollte, was das Beste für sie sei. Eines Morgens erzählte sie mir, daß sie nun zum letzten Mal ihre Tochter zwangsernährt hätte. Paula hatte entschieden, daß sie eine liebenswertere Mutter wäre, wenn sie Mimi so sein ließ und sie nicht mehr zwangsernährte, sogar wenn sie sie sterben ließ, was für sie vor noch einigen Wochen undenkbar gewesen wäre. Nahezu im selben Augenblick, als Paula diese Entscheidung traf, griff in einem anderen Teil des Gebäudes Mimi zum ersten Mal nach einem Stück Nahrung, steckte es ruhig in ihren Mund, kaute und schmatzte, als ob Essen etwas für sie ganz Gewöhnliches wäre. Innerhalb von drei Monaten aß Mimi regelmäßig drei bis fünf Mahlzeiten selbst am Tag. Es war begeisternd zu sehen, wie dieses kleine Kind, das wie eine verschlossene Tür gewesen war, sich nun durch einen Wandel der Einstellung ihrer Mutter vollkommen veränderte.

Bitte erzähle mir mehr darüber, wie du mit Kindern wie Mimi arbeitest?

Wir beginnen mit der Beobachtung dessen, wo sich das Kind befindet. Wir prüfen, ob das Kind spricht, ob es durch äußere Reize erreicht werden kann, ob es physische Probleme hat, z.B. motorischer Art oder was auch immer. Wir beobachteten es und versuchen, zu verstehen, was wir sehen. Wie bewegt sich das Kind, wozu ist das Kind fähig, wofür interessiert es sich?

Wenn wir einmal diese Fragen beantwortet haben, beginnen wir damit, ein Programm im Rahmen unserer Haltung der totalen Annahme und des urteilslosen Zugangs zu entwickeln, ein Programm, das die ganze Familie des »Option Instituts« erfordert und alle Mitglieder in dieser nährenden und bedingungslos liebenden Zugangsweise einschließt. Wir bilden dieses Programm um das herum, wofür sich das Kind interessiert. So ist jedes Programm auf das jeweilige Kind bezogen und ausgerichtet. Wenn wir zum Beispiel ein Kind vor uns haben, das nicht sprechen oder lesen kann, dann ist es für uns nicht vordringlich, das Kind dazu zu bringen, lesen und sprechen zu können. Doch wir können vielleicht beobachten, daß sich das Kind für Türknöpfe interessiert oder dafür, wie sich Schubladen an einem Schreibtisch rausziehen lassen. Das Programm beginnt also mit den natürlichen Interessen des Kindes als einem Weg, die Neugier des Kindes zu nähren, so daß es durch seinen eigenen Antrieb und seinen Willen gestärkt wird, etwas zu wissen. So konnten wir Kinder beobachten, die überhaupt nicht sprechen konnten, wie sie innerhalb von drei oder vier Monaten zu sprechen begannen, indem wir solch ein selbstanregendes Programm angewandt haben.

Ein zwei Jahre altes Kind, das mit seiner Familie zu uns kam, wurde als taub und blind bezeichnet, und die Diagnose lautete auf Gehirnlähmung. Dieses Kind tat nichts, es bewegte sich nicht und reagierte in keiner Weise. Wir entschieden uns, alle Urteile und Glaubensvorstellungen über dieses Kind und seinen Zustand hinter uns zu lassen und es so zu behandeln, als wäre es so bewußt wie ich und du. Wir brummelten mit ihm, wir spielten mit ihm, wir krabbelten mit ihm, wir rutschten mit ihm, wir kitzelten es und drückten unsere Annahme, unsere Freude und unsere Liebe für dieses Kind in allen kleinen Handlungen mit unserer Sprache und ohne unsere Sprache aus.

Innerhalb zweier Tage folgte das Kind uns mit seinem Gesicht und seinen Augen und antwortete auf eine Weise, wie es die Diagnose niemals für möglich erschienen ließ. Anstatt aufgrund der Diagnose anzunehmen, daß es nicht reagieren könnte, begegneten wir diesem Kind wie irgendeinen anderen Kind mit dem kindlichen Gefühl für Ehrfurcht und für das Unbekannte. Wir wurden selbst wie kleine Kinder, wodurch sich erstaunliche und unvorhersagbare Dinge ereigneten.

Du siehst, wir werden meist gelehrt zu glauben, daß die Vergangenheit die Gegenwart bestimmt. Das ist im weltlichen Sinne logisch. Doch meine Erfahrung ist, daß die Vergangenheit in diesem Moment wirklich nicht wichtig ist. Sie ist nur dann wichtig, wenn du glaubst, daß sie es ist. Wenn wir die Vergangenheit loslassen, die letztendlich nichts anderes als eine Täuschung ist, weil wir eine Verbindung von Ideen in unserem Kopf über sie herumtragen, können wir hier und jetzt im Augenblick neue Möglichkeiten sehen und wählen, und die Vergangenheit wird tatsächlich unbedeutend.

Was hältst du von der Theorie der kindlichen Entwicklung, die besagt, daß die ersten Jahre im Leben eines Kindes bestimmen, was es in seinem späteren Lehen sein wird?

Diese Theorie entspricht einfach nicht unserer Erfahrung. Laß mich von zwei Kindern erzählen, die wir adoptiert haben. Als Ravi im Alter von fünf Jahren von Columbien, Südamerika, zu uns kam, sprach er kaum, er schlief im Stehen ein und er wurde schlichtweg als psychotisch diagnostiziert. Nun, ich denke, er hatte volles Recht, psychotisch zu sein, denn im Alter von dreieinhalb Jahren starb seine Mutter, und sein Vater versuchte ihn auf eine schlimme Weise zu töten. Aber er überlebte irgendwie und wurde in ein Waisenhaus gebracht. Dann wurden wir auf ihn aufmerksam.

Als Susi und ich ihn am Flughafen abholten, fühlten wir unmittelbar eine Verbindung zu ihm. Wir hatten ihn bereits adoptiert, ohne ihn vorher gesehen zu haben, und ich hatte bereits entschieden, sein Vater zu sein. Nun ich nahm ihn auf meine Schultern und ging durch den Flughafen. Ich erinnere mich an die Gefühle des Vaterseins gegenüber diesem total Fremden. Für mich war dies eine wirkliche Bejahung der Idee, daß Liebe eine Entscheidung ist, die wir treffen. Ich hatte mich entschieden, Ravis liebender Vater zu sein.

Nun wir arbeiteten mit Ravi mit unserer Weise bedingungsloser Liebe für drei bis vier Monate, bis er schließlich antwortete. Heute ist Ravi neun Jahre alt. Er ist einer der stärksten von unseren sechs Kindern und kann sich sprachlich sehr gut zum Ausdruck bringen. Er ist ein Einser-Schüler, und alles läuft wunderbar mit ihm.

Ein anderes Beispiel ist Tayo, der in den Dschungeln von Südamerika geboren wurde. Scheinbar war er ohne Familie, er war verlassen, als er noch ganz klein war. Er war unterernährt und wurde in ein Krankenhaus gebracht. Er konnte sich kaum wie ein Kind in seinem Alter bewegen, und man nahm an, daß er einen Gehirnschaden hatte. Nun, er war also ein kleiner Junge, der für die ersten eineinhalb Jahre seines Lebens keine Anregungen hatte, er war unterernährt im physischen wie im emotionalen Sinne.

Wir arbeiteten mit Tayo etwa ein Jahr sehr intensiv. Heute ist er acht Jahre alt. Sein Lehrer weiß nicht, was er mit ihm tun soll, denn er scheint viel klüger als all die anderen Kinder zu sein. Er nimmt Informationen so schnell auf, daß der Lehrer Schwierigkeiten damit hat, ihn bei Interesse zu halten. Er ist unwahrscheinlich neugierig und interessiert sich für alles.

Bei diesen beiden Kindern spricht ihre frühe Lebensgeschichte total gegen das, was sie heute sind. Man könnte sie »Wegwerf-Kinder« nennen. Sie hätten beinahe nicht überlebt. Und nach den Theorien der Kindesentwicklung müßten sie vollkommen dumm, zurückgeblieben und voller Probleme sein.

Doch heute leben sie ein wunderbares Leben und sind einfach großartig.

Du hast offensichtlich bedingungslose Liehe als eine sehr machtvolle Kraft zum Guten erfahren. Können sogenannte gewöhnliche Menschen lernen, diese Weise des Annehmens, diese urteilslose Liebe in ihrem Leben zu erfahren und zum Ausdruck zu bringen?

Ja, und bin sehr froh, das du gesagt hast »sogenannte gewöhnliche Menschen«, weil es meine Erfahrung ist, daß es in der Welt keine gewöhnlichen Menschen gibt. Wir alle sind einzigartige, wunderbare Wesen mit allen Antworten für unser eigenes Leben in uns. Wir alle sind unsere eigenen Experten, wenn wir nur lernen, dies zu akzeptieren. Wir nennen unser Institut einen Ort für Wunder. Die meisten Menschen meinen, das bezieht sich auf das, was wir hier tun. Aber letztlich bezieht es sich auf die Menschen hier und im erweiterten Sinne auf alle Menschen. Wir alle sind Wunder, so wie wir sind.

Hilft eure Methode den Menschen, in Verbindung mit ihrer inneren Vollkommenheit zu kommen?

Der Option Process bietet einen Weg, den Pfad zum Glück zu entdecken, der in jedem von uns liegt. Im Grunde besteht er aus drei Schritten – drei Schritten zum Glück.

Der erste ist ein Gewahrsein dessen, daß ich glücklich sein möchte. Das scheint sehr einfach zu klingen, doch die wenigsten von uns scheinen diese Erklärung wirklich klar und direkt sich selbst gegenüber abgegeben zu haben. Seit Jahren habe ich mit vielen Menschen gearbeitet, die kleine Kinder geschlagen, die andere Menschen umgebracht, die ihre Familien verlassen haben und doch habe ich nie jemanden gefunden, der nicht glücklich sein wollte.

Der zweite Schritt besteht in dem Anerkennen: »Ich kann glücklich sein.« Dies auszusprechen ist für die meisten Menschen etwas sehr Außergewöhnliches. Wir wurden nicht so erzogen, daß wir glauben, wir könnten wirklich von grundauf und dauerhaft, unwiderruflich glücklich sein. Also wenn wir uns selbst daran erinnern, daß es wahrhaft möglich ist, dann kann diese Aussage sehr begeisternd und lebensfördernd sein.

Und der dritte Schritt besteht darin: »Ich entscheide mich, glücklich zu sein«. Ich lasse all die alten Botschaften und Aussagen los, die besagen: »Ich verdiene kein Glück, es ist einfach nicht möglich.« Ich lasse alles los, was uns die Welt gelehrt hat, daß wir es nicht tun könnten, und ich tue es. Das schwache Glied in dieser Kette ist jener mittlere Schritt. Für die meisten von uns ist der Glaube: »Ich kann glücklich sein« der wirkliche Wandel in ihrer Einstellung. Wir müssen die Art und Weise ändern, wie wir uns selbst und die Welt betrachten. Bisher war die Veränderung unserer Einstellung mit innerer Arbeit und mit Tränen verbunden. Wir sind so verhaftet in unserer gegenwärtigen Art und Weise, die Welt und die Dinge um uns herum zu betrachten, daß wir der Veränderung gegenüber Widerstand leisten, sogar manchmal bis zum Tod. Aus diesem Grunde sind auch alle Kriege entstanden, all das Leid, all das religiöse Opfer, all die Angst, mit der die Menschheit angefüllt ist.

Wie hilft eure Arbeitsmethode anderen Menschen, diese Veränderung in ihrer Wahrnehmung zu vollziehen?

Unsere Methode beginnt damit, den jeweiligen Menschen in die Gegenwart eines vollkommen liebenden und annehmenden Lehrers oder Betreuers zu bringen. In den meisten Fällen ist dies für den anderen Menschen das erste Mal, daß er wirklichen Respekt und wirkliche Unterstützung durch einen Menschen erfährt. Innerhalb dieser einzigartigen unterstützenden Beziehung hilft der Berater sehr einfühlsam und ohne irgendwelche Urteile dem anderen Menschen gegenüber, seinen eigenen Weg zu finden. Es ist kein Vorgang des Lehrens, bei dem Ratschläge oder Interpretationen gegeben werden. Vielmehr ist unser Option Process ein Vorgang, der die Einzigartigkeit eines jeden Menschen feiert, ein Vorgang der Anerkennung, daß der andere fähig ist, seine eigenen Lösungen zu finden und anzuwenden.

Im Grunde entdecken die Menschen durch diesen Vorgang, daß Unglück auf Bewerten und Urteilen beruht. Und sie entdecken, daß sie diese Urteile und Entscheidungen ändern können, wenn sie erkennen, daß ihr Unglück ihnen einfach nicht hilft. Es ist wirklich ein »Option Process«, d.h. ein Vorgang, sich selbst zu verstehen und neu zu wählen. Er erfordert eine Bereitschaft, Einstellungen zu verändern, die für so lange Zeit festgefahren waren.

Laß es mich auf eine etwas dramatische Weise darstellen. Wenn du morgen Krebs bekommen würdest, könntest du dann sehen, daß es eine nützliche Gelegenheit für dich ist? Oder wenn du eine Stelle verlierst oder gekündigt wirst, kannst du dies als eine begeisternde, neue Möglichkeit für dich sehen? Wenn dich dein Ehemann oder deine Ehefrau verläßt oder dir die Kinder ihren Rücken kehren, kannst du dies in einen wunderbaren Lernprozeß umwandeln?

Nun dies scheint zunächst völlig unrealistisch. Und doch haben wir immer wieder mit Menschen gearbeitet, die fähig waren, solche anscheinend schwierigen und tragischen Erfahrungen in freudige und lebensbejahende Ereignisse und Vorgänge umzuwandeln. Wenn wir jedoch bei unserem Unglück verharren und solche Vorgänge als schlecht ansehen, als schwierig oder unmöglich, dann erschaffen wir eine Art sich selbsterfüllende Prophezeiung. Wenn wir es als schlecht ansehen, wird es auch schlecht sein. Doch wenn wir solche Urteile loslassen und uns selbst als fähig betrachten, glücklich zu sein, ungeachtet dessen, was uns geschieht oder mit uns geschieht, dann beginnen wir die Möglichkeiten und Gelegenheiten zu sehen, die vor uns noch nie erschienen sind. Es kann wahrhaft ein wunderbares Abenteuer sein.

Hast du schon mal beachtet, daß du ein warmes, angenehmes Gefühl hast, wenn du etwas als gut ansiehst. Du gibst dir wahrhaft eine gewisse Art glückliche Erfahrung. Doch wenn du etwas als schlecht, schlimm, schmerzvoll siehst, dann schaffst du eine andere Art von Erfahrung, die du als unangenehm bezeichnest, die du als Spannung, als Angst oder als Unglück erfährst.

Ein Weg aus diesem ewigen Auf und Ab ist, sich zu entscheiden, nicht mehr zu urteilen. Wenn das ein unerreichbares Ideal zu sein scheint, dann kannst du vielleicht einen Schritt in Richtung dieses Ideals gehen, indem du dich entscheidest, Dinge nur in einer Richtung zu beurteilen. Wenn du etwas als gut beurteilst, wirst du es als gut fühlen, und wenn du etwas als schlecht beurteilst, wirst du es als schlecht fühlen. Wenn du dieses Wissen erlangt hast, dann wirst du alles als gut beurteilen. Das bedeutet nicht, daß du gefühllos oder sorglos werden wirst. Es bedeutet einfach, daß du dich entschieden hast, die Menschen und Ereignisse in deinem Leben auf eine neue und positive Weise zu betrachten. Du wirst glücklicher und liebender sein und das Leben mit begeisternder Kraft umarmen.

Ist es wirklich möglich, dies in unserer Welt der Ungerechtigkeit und des Leidens in die Praxis umzusetzen?

Laß mich von einer unserer Erfahrungen darüber berichten. Susi und ich haben in Südamerika gearbeitet und viele Kinder gesehen, die physisch und emotional unterernährt waren und die im Sterben lagen. Viele dieser Kinder hatten nur eines in ihrem Kopf, wenn sie uns sahen. Sie versammelten sich um uns und riefen in Spanisch: »Sei meine Mami, sei mein Papi, nimm mich zu dir nach Hause«. Wenn ich diese Geschichte anderen Menschen erzähle, dann schütteln sie den Kopf und sagen: »Das muß eine schreckliche Erfahrung gewesen sein.« Doch wir haben es nicht auf diese Weise gesehen. Anstatt es als schrecklich zu betrachten, entschieden wir uns, in ihnen Kinder zu sehen, die genau wußten, was sie wollten, und nicht scheu waren, uns dies mitzuteilen. Indem wir ihre Situation nicht als schlecht beurteilten, waren wir frei, schöpferisch mit ihnen umzugehen und ihnen auf die uns mögliche Weise zu helfen. Aufgrund dessen war unsere Erfahrung ungewöhnlich schön und voller Freude, und wir nahmen eines dieser Kinder mit zu uns nach Hause.

Ich denke, es ist möglich, auch das Gute in den schlimmsten Ereignissen und Situationen zu sehen. Damit sage ich nicht, daß dies immer leicht ist. Doch für mich selbst habe ich herausgefunden: wenn ich immer nach dem Guten schaue, auch wenn ich es nicht immer vollkommen verstehen kann, dann finde ich auf diese Weise zumindest das Leben angenehm und das ertragenswert und gut, was ich in anderer Weise als untragbar und schlecht bezeichnen würde.

Indem ich mich selbst und andere Menschen beobachte, habe ich erfahren: wenn wir etwas als schlecht, böse oder schlimm bezeichnen, machen wir es zu unserem Feind, und wir begrenzen unsere Fähigkeit, es zu verstehen, mit ihm umzugehen und es womöglich zu verändern. Doch wenn wir an es herangehen mit einer Einstellung des Glücklichseins mit jedem und allem und vor allem mit uns selbst, dann sind die Möglichkeiten für Veränderung buchstäblich unbegrenzt. Mit anderen Worten: wunderbare Veränderungen kommen nicht daher, daß wir mit uns unglücklich sind. Doch sie erwachsen der Einstellung, alle die Dinge loszulassen, die uns unglücklich machen, und sie erwachsen der Entscheidung, glücklich zu sein, was auch immer geschieht.

Bedeutet dies, daß du nicht darauf aus bist, bestimmte Ergebnisse zu erzielen, wenn neue Menschen Hilfe suchend in dein Institut kommen?

Nein, keineswegs. Wir haben uns dazu verpflichtet, anderen Menschen dabei zu helfen, das zu erschaffen, was sie für sich selbst wollen. Das Paradox liegt darin: wenn wir die gegenwärtige Situation annehmen und sogar umarmen, sei die Situation nun eine gescheiterte Beziehung, eine gescheiterte Karriere, ein physisches Leiden oder was auch immer, dann aktivieren wir gleichzeitig unsere eigene schöpferische Quelle, um Veränderung herbeizuführen. Die entscheidende Lektion ist, daß mein Glück nicht von dieser Veränderung abhängig ist. Ich kann jetzt glücklich sein, auch wenn ich noch mitten drin bin in der Veränderung, die ich vollziehen möchte. Letztlich ist das die Befreiung.

Ich bin mir sehr dessen bewußt: was Susi und ich für unseren Sohn Raun taten, taten wir letztlich für uns selbst. Raun hat uns nicht darum gebeten, ihn aus seiner verschlossenen Welt herauszunehmen und in unsere hineinzubringen. Er wußte nicht einmal, daß unsere Welt existierte. Doch irgendwie haben wir vertrauen können, daß dieser kleine eineinhalbjährige junge Mensch wußte, irgendwo tief in sich selbst, was für ihn das Beste sei. Und wir waren fähig, eine Umgebung bedingungsloser Liebe zu schaffen, in der er seine eigene Antwort finden konnte.

So besteht das Wunder nicht darin, daß jemand in unserem Institut geheilt wird. Das Wunder besteht darin, daß wir uns tatsächlich ausdehnen und auf bedingungslose Liebe in einer wunderbaren Weise antworten können. Jesus sagte: »Wenn wir wie kleine Kinder werden können, werden wir das Himmelreich betreten.« Das ist die wirkliche Lektion für uns alle.