Die Vorzüge des Scheiterns
Jeder Mensch möchte im Leben etwas erreichen. Jeder hofft, daß alles glatt läuft, ohne Rückschläge oder auch nur den kleinsten Frust.
Doch das Scheitern hat auch seine Vorzüge. In seinem Dream Image of the Ten Years in Southern Min schrieb der buddhistische Mönch Hongyi: “ich wünschte mir, daß alles, was ich anpacke, fehlschlägt. Denn nur wenn Dinge scheitern, fehlerhaft oder unvollkommen sind, schäme ich mich und erkenne meinen Mangel an Tugend. Das ist mein Ansporn, mein Verhalten ernsthaft zu verbessern. Ich hoffe, daß ich immer scheitere, denn nur ein Fehlschlag vermag das Gefühl der Scham auszulösen. Und es wäre eine Katastrophe, sollte ich aufgrund meiner Erfolge selbstgefällig werden.”
Ich liebe dieses Zitat. Denn dieses Denken, obwohl es gewöhnlichen Menschen absurd erscheinen mag, zeigt die Bescheidenheit, die große Weisheit und die Erkenntnis dieses Meisters.
Im Schatz der Kernunterweisungen spricht der große tibetische Meister Longchen Rabjam (auch Longchen-pa genannt) eine tiefgründige Weisheit aus: “Beseitigt die Anhaftung an euch selbst und akzeptiert stets, wenn ihr scheitert.” Auch der ehrenwerte Langri Thangpa ermutigte seine Schüler: “Nehmt alle Verluste und Niederlagen auf euch und laßt von euch immer nur Wohltaten und Erfolge ausgehen.” Aus seinen und aus Hongyis Worten spricht derselbe Geist: Eine herausragende Persönlichkeit zeichnet sich dadurch aus, daß sie dem Scheitern tapfer entgegensieht.
Die taiwanesische Autorin Luo Lan schreibt: “Jeder Schritt, den wir auf unserer Lebensreise tun, sei er falsch oder richtig, verhilft uns zu Erfahrungen. Richtige Schritte führen zum Erfolg, falsche stellen eine Lektion dar. Wenn sie sich gezwungen sehen, eine Umleitung zu nehmen, oder vom Weg abgekommen, ist es, als gelangten Sie aus Versehen auf einen Hochgebirgspfad: Die anderen haben Angst um Sie und Mitleid mit Ihnen, Sie jedoch können seltene Blumen und Früchte pflücken, erblicken Vögel und andere Tiere, die man sonst nie zu sehen bekommt. Außerdem lernen Sie eine neue Strecke kennen, und diese Erfahrung macht Sie stärker und tapferer.”
Sie brauchen also keine Angst vor dem Scheitern zu haben. Sobald Sie es mutig annehmen, werden Sie erleben, welche Vorteile es mit sich bringt. Denken wir nur an das alte Sprichwort “Glück und Pech folgen einander auf dem Fuße.”
Bitte beachten Sie hierzu auch den Beitrag “Alles geht vorbei“
Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus dem Buch “Das Glück findet Dich dann, wenn Du es nicht suchst” – Buddhistische Weisheitsgeschichten und Inspirationen für die kleinen und großen Stürme des Alltags – von Khenpo Sodargye, Lotus-Verlag, München, ISBN 978-3-7787-8281-1
Khenpo Sodargye
Khenpo Sodargye wurde 1962 in Tibet geboren und ist tibetischer Lama und buddhistischer Gelehrter. Bevor er zur Schule ging, verbrachte er seine Kindheit als Yak-Hirte. 1985 erhielt er seine Weihe im berühmten Kloster-Institut Larung Gar. Khenpo Sogardye gilt als einer der bedeutendsten buddhistischen Lehrmeister unserer Zeit. Er hält weltweit Vorträge, in denen er zeigt, wie die Lehre des Buddha mit der globalisierten Welt vereinbart und in den Alltag integriert werden kann. www.khenposodargye.org