Gedanken über die Liebe – von Stefan von Jankovich
Am dritten Tag nach meiner Wiederbelebung auf der Intensiv-Pflegestation in Ospedale San Giorani in Bellinzona, an Schläuchen und Apparaturen angeschlossen, habe ich in miserablem und lebensgefährdetem Zustand den merkwürdigen Satz diktiert: »Die Liebe ist die größte Kraft im Universum.« Als ich dann später begann, die Tonbandaufzeichnungen aufzuarbeiten, verstand ich diesen Satz zuerst nicht. An der Technischen Hochschule hatte’ ich nie etwas von einer solchen oder ähnlichen Kraft gelernt oder gehört. Weil die damals spontan erfolgten Aussagen für mich Realität waren, folgten jahrelange innere Auseinandersetzungen mit dem Wesen, Sinn und den Eigenschaften der Liebe. Ich war erst beruhigt, als ich auch mit meinem Verstand diesem Satz: »Die größte Kraft in der Schöpfung ist die Liebe« zustimmen konnte. Dann ist mir das Licht aufgegangen. Über den physischen, biologischen, seelischen und geistigen Kräften steht die göttliche Kraft der Liebe, welche stärker und entscheidender ist als alle anderen Kräfte.
Was ist eigentlich die Liebe? Sie ist nicht eindeutig definierbar, nicht mit dem Kopfdenken zu erfassen, obwohl sie für mich die einfachste Wirklichkeit und die grundlegende Kraft ist. Deshalb ist es verständlich, daß man über die Liebe als solche nicht viel schreiben kann – die Liebe ist einfach die Liebe selbst. Wenn es dagegen an Liebe mangelt, entstehen vielfältige, sehr bedeutende Mangelerscheinungen. die Gegenstand von vielen Betrachtungen, Analysen und von fast allen literarischen Werken sind, die die Bibliotheken füllen und tagtäglich die Presse verkaufs-attraktiv machen.
Ich diktierte im September 1964: »Es gibt keine Finsternis, weil Finsternis ein Mangel an Licht ist. Es gibt kein Böses, weil das Böse Mangel an Gutem ist. Es gibt keine negativen Kräfte an sich, wie Haß, Neid, Agressivität, Eifersucht, Habgier, Machtgier, Erfolgs-Ehrgeiz, Egoismus, Rache usw., weil sie
Erscheinungen des Mangels an Liebe sind.« Liebe ist Harmonie. Dagegen Mangel an Liebe entfacht Spannungen, schafft Konfliktsituationen im Leben, produziert Disharmonie, interessante, nervenkitzelnde. außergewöhnliche Geschehnisse und Erzählungen, die für den Leser Kaufwert haben, d.h. die gut »verkäuflich« sind. Wer interessiert sich dagegen für Harmonie, für nichts Außergewöhnliches. für ein zufriedenstelIendes Sein? Wer interessiert sich für die Liebe, wenn durch Mangel an Liebe so vielfältige »interessante« Angebote dargestellt werden können’?
Die Liebe ist einfach, natürlich und doch überwältigend. Sie ist wahrlich die größte Kraft, die überhaupt existiert. Die Liebe ist das Grundprinzip der Schöpfung. Seit der Mensch als Homo Sapiens auf dieser Erde erschienen ist, versuchte er die Liebe als Grundprinzip zu definieren, auszudrücken, zu formulieren und sie so als Grundregel für Verhaltensweisen in sozialen Strukturen zu bestimmen. So sind zahlreiche Beschreibungen und Umschreibungen bekannt, die eigentlich immer dieselbe Aussage haben. Eine der ältesten Aussage stammt aus Polynesien und könnte vor 10 000 Jahren datiert sein. Sie sagt, daß »der Mensch sich selbst und allen Menschen helfen, Gutes wünschen. Gutes antun und Freude bereiten soll.« Diese Aussage war die Grundlage der Huna-Ur-Naturreligion.
Jesus von Nazareth formulierte das Gebot der Liebe zusammengefaßt wie folgt: »Du sollst Deinen allmächtigen Vater überaus lieben, Dich selbst lieben und Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst.« In dem »Ägyptischen Totenbuch « heißt es: »Dein Herz soll federleicht sein – ohne Belastung aus Folgen der Lieblosigkeit.« Konfuzius prägte die Worte: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.« Moses hat die zehn Gebote, eine Formulierung der Liebe, den Menschen vom Berge Sinai heruntergebracht.
Plato sagte einmal: »Gerecht ist derjenige, der in vollkommener Harmonie und Liebe lebt mit sich selbst, mit seines gleichen und mit der ganzen Welt)Ordnung.« Im Islam heißt es: »Keiner von euch ist ein Gläubiger, solange er licht das für seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst wünscht.« Der
Hinduismus bekennt sich zur Liebe: »Tu anderen nichts an, das Dir, wenn es Dir geschehen sollte, Schmerz bereiten würde.« Sikhs sagen: »Wie du dich selbst schätzest, so schätze auch andere. Dann wirst du teilhaben am Himmel.« Im Taoismus heißt es: »Betrachte den Vorteil deiner Nächsten als deinen eigenen Vorteil, und betrachte den Verlust deiner Nächsten als deinen eigenen Verlust.«
Und es sind unzählige Formulierungen im christlichen Bereich vom Heiligen Paulus (1. Korinther Brief, Kap. 13), Franziskus von Assisi u.a. bekannt. AIle bezeichnen die Liebe als strahlende Kraft, mit der Eigenschaft: jenseits von Egoismus, »selbstlos« oder »bedingungslos«. Man liebt dann richtig, wenn man keine Bedingungen stellt, wenn man keine Gegenleistung erwartet.
Fragen wir uns, ob wir so lieben können? Ob wir je unseren Vater-Gott und unS selbst und einen Mitmenschen so geliebt haben?
Die größte Frage ist: kann ich mich selbst lieben, so daß ich jeden Bestandteil meines Selbst liebe, d.h. pflege. Gutes antue. Freude bereite und keinen Schaden zufüge. Diese »Teile« sind Körper und Gemüt. Wie viele Menschen können sich selbst nicht lieben und fügen dadurch dem eigenen Körper, dem
eigenen Gemüt immer wieder Schaden zu. Die Eigen-Liebe ist so weit berechtigt, richtig und nützlich, solange sie mit der Nächsten-Liebe nicht in Konflikt kommt. Dann wird die schwierige Aufgabe gestellt: Wo ist die Grenze zwischen Eigenliebe und Egoismus? Wie weit kann und darf ich meine eigenen Interessen vertreten? Das Problem läßt sich so klarstellen: ich kann und soll sogar für meinen Körper und mein Gemüt alles Gute tun, alles geben, alles an Freude, Befriedigung und Förderung zukommen lassen,
solange ich damit meinen Mitmenschen nicht schade.
Wenn ich nur an mich denke, verfalle ich in Egoismus: wenn ich nur die Interessen meiner Mitmenschen berücksichtige, opfere ich mich unnötig auf. Der beste und echte Wegweiser ist die Liebe: Gottes-, Eigen- und NächstenLiebe.
Im Lebensfilm, welchen ich im klinisch toten Zustand erlebt hatte, mußte ich mit großem Erstaunen feststellen, daß das Kriterium, ob eine Entscheidung gut oder fehlerhaft (ich möchte das Wort »Sünde« nicht schreiben) war, die oben genannte Gottes-Eigen-Nächsten-Liebe ist. So bezeichnete ich bereits am dritten Tag nach der Wiederbelebung das Grundgesetz des menschliche Lebens als »das allgemeine, kosmische Harmoniegesetz der Liebe,« welches rund um die Erde für alle Menschen Gültigkeit hat. Diese Erkenntnis war eine der wichtigsten, die ich im klinisch toten Zustand erfahren durfte. Seit dieser Zeit versuche ich die Liebe zu leben.
Die Frage ist: Wie kann ich meinem Hunger an Liebe begegnen? Ich weiß, daß ich »geliebt« werde, weil mein Vater-Gott mich liebt und ich mich selbst liebe. So brauche ich keine Liebe von Dritten. Ich akzeptiere mich und liebe mich – das ist für mich das Wichtigste.
Wenn ich mich geliebt fühle, erfüllt mich innere Harmonie und ich habe keinen Platz in mir für Erscheinungen, die als Liebes-Ersatz wegen Mangel an Liebe entstehen. Ich kann mich akzeptieren, wie ich bin, und kann die anderen Menschen auch annehmen, wie sie sind. Der empfindlichste Mangel in der Welt ist Mangel an Liebe. Dies ist die Ursache von Habgier, Machtgier, Aggressionen, Verbrechen, Hunger, Armut, Mißtrauen, Kriegen, Unterdrückung, Ausbeutung, Rache, Neid und Haß. Das Schlimmste ist, wenn ich mich selbst nicht lieben kann, wenn ich mich nicht geliebt fühle und negative Entscheidungen treffe, weil ich einen Liebesersatz suche.
Ich möchte mit dem Gedankengut der Essener meine kurze Abhandlung schließen:
Heute mache ich die Liebe zu meiner Pflicht. Ich will mithelfen, die Erde, die Gesellschaft zu verändern, indem ich mich selbst und andere vorbehaltlos liebe, indem ich anderen vergebe, die mich vielleicht nicht lieben können. Von heute an liebe ich mich selbst und akzeptiere mich, wie ich bin … so ist es wunderbar und es genügt mir. Deshalb entlasse ich heute meine Familie. meine Freunde aus der Tyrannei meines Liebes-Hungers. Nicht länger werde ich durch mein Verhalten zu verstehen geben: Ich brauche Deine Liebe, ich bin verletzt und werde böse, wenn Du mich nicht liebst… Von heute an liebe ich mich selbst… so bin ich goldrichtig und geliebt, und das ist ein schönes, harmonisches Gefühl.
Weil ich mich liebe, bin ich frei, auch Dich zu lieben – freiwillig.