Zum Mißverständnis des Menschen seiner selbst

 

Um das Mißverständnis des Menschen seiner selbst in seinen Ursachen zu ergründen, müssen wir die fünferlei Arten innerer Tätigkeit, die sich entweder zwanghaft oder bewußt gelenkt vollziehen, näher betrachten.

Wollen wir die inneren Tätigkeiten begreifen, so müssen wir den Vorgang, durch den die Substanz vom Individuum und durch die geistige Kollektiv-Einstellung geformt wird, näher betrachten. In den folgenden fünf Abschnitten finden wir darüber Genaueres.

Die fünf Arten innerer Tätigkeit treten als direkte oder intuitive Wahrnehmung, als Mangel an Unterscheidungsvermögen, als Täuschung, Schlaf und Gedächtnis in Erscheinung.

Direkte oder intuitive Wahrnehmung

Zu Wissen kommen wir am besten, indem wir einfach wissen. Wer daran gewöhnt ist, sich Wissen von außen her anzueignen, oder wer stolz ist auf sein angesammeltes Wissen von Tatsachen und Dingen, das wiederum von anderen auf ähnliche Weise erworben wurde, für den mag das Gesagte unbegreiflich erscheinen. Aber es ist so: wir werden wissen am besten durch Wissen. Denn zu Wissen ist eine Fähigkeit der Seele als eine Einheit des Bewußtseins. Die Seele braucht nichts zu lernen, obgleich sie Bedingtheiten auf sich nehmen muß, um sich in bestimmte Verhältnisse hinein zu finden. Haben wir aber das Bedürfnis, uns aus allen Abhängigkeiten zu lösen, so können wir dies durch Meditation und reine Konzentration erreichen. Alle Demonstrationen der Macht der Seele und die durch sie hervorgerufenen Phänomene wie Hellsichtigkeit, Hellhörigkeit, Vorschau, In-Erscheinungtreten einer oder mehrerer Körper, Zeugen – in verschiedenen Graden – von der Fähigkeit der Seele.

Mangel an Unterscheidungsvermögen

Wie schon erwähnt müssen wir, wenn wir mit falschen Angaben operieren, zu falschen Schlußfolgerungen kommen, gehen wir bei unseren Erwägungen auch noch so scharfsinnig vor. Halten wir diese Welt der Gestaltungen für die einzige Wirklichkeit und gehen bei allen unseren Unternehmungen und Vorhaben von dieser Voraussetzung aus, dann fehlt uns das rechte Unterscheidungsvermögen. Wir sehen nicht die eine Macht hinter der Form. Es gibt nur eine Macht, und diese eine Macht nimmt Form an auf allen Ebenen, indem sie sich als Substanz manifestiert. Sprechen wir darum von einem Schöpfer oder der Schöpfung, so ist dies eine ungenaue Aussage. Es gibt nur den Schöpfer, der zugleich die Schöpfung ist. Alles, was das Gemüt des Menschen wahrzunehmen vermag, und alle Wahrnehmungen, deren er sich bewußt werden kann, sind Teile und Bestandteile von diesem einen Bewußtseins. Die Auffassung vom Sondersein ist es, die uns die Dinge falsch sehen läßt und zu leidvollen Erfahrungen führt.

Täuschung

Selbsttäuschung ist eine der anziehendsten Ablenkungen, mit der sich ein strebender Mensch befassen kann. Der Weg zu wirklicher und letzter Erkenntnis erscheint so weit (wiederum ein Zeichen von Mangel an Unterscheidungsvermögen), das manchen Menschen – um die Ihnen eintönig erscheinenden täglichen Bemühungen zu beleben – sich ein Bild davon entwerfen, wie die Ebene reinen Gewahrseins wohl sein könnte, und so erleben sie (nichts anderes als) Wunscherfüllungen. Da ihr Verlangen nach dem Erleben der Wirklichkeit außerordentlich stark ist, halten sie das Erfahrene eine Zeit lang für die Wirklichkeit. Bald aber schwindet diese Gewißheit, und ein trostloses Gefühl der Enttäuschung bemächtigt sich ihrer. Hier sollten wir ehrlich sein mit uns selbst. Ich habe noch keinen Menschen gefunden, der sich selbst etwas vormacht und in der Tiefe seiner Seele auch tatsächlich glaubt, was er zu sein vorgibt. In stillen Augenblicken tritt immer die nüchterne Wirklichkeit zu Tage. Sich selbst betrügende Menschen erkennt man gut an ihrem Bemühen, sich zu verstellen und groß zu tun. Leider aber genügt ihr nur äußeres Gebaren nicht, um wirklich das darzustellen, was dem von ihnen vorgegebenen Bewußtseinsgrad entspricht. Wir sollten uns vor Selbsttäuschungen hüten, und dies wird uns am besten gelingen, wenn wir uns an Menschen oder Lehrer halten, die sich selbst verwirklichen konnten, und ihren Rat ernstlich in Erwägung ziehen.

Schlaf

In gewissem Sinne schläft jeder, der sich durch einen Körper auf dieser oder einer anderen Ebene betätigt, weil er in ihnen weniger bewußt lebt als er könnte. Will der Mensch durch einen Körper wirksam werden, so muß er gewisse Begrenzungen auf sich nehmen. Diese Beschränkungen sind selbst auferlegt und werden beim Verlassen des Körpers wieder aufgegeben. Der gewöhnliche Schlafvorgang ist weitgehend eine Angewohnheit des Körpers. Im Schlaf findet der Mensch eine Gelegenheit, sich von den Angelegenheiten dieser Welt zurückzuziehen, und das erfrischt ihn. Begreift er aber den Vorgang des Schlafes, so vermag er durch ihn zu erkennen, wer er wirklich ist. Es gibt viele Übungen, die uns darauf vorbereiten, den Schlafvorgang als Tor zu unbegrenzten Ausdrucksmöglichkeiten zu benutzen. Der Durchschnittsmensch schläft, um eine Weile lang der harten Wirklichkeit entfliehen zu können. Durch geeignete Übungen in Meditation und reiner Konzentration aber kann er lernen, sich den Schlaf ganz abzugewöhnen. Wenn ihm dies gelingt, hat er den Tod überwunden.

Gedächtnis

Solange ein Mensch sich darum bemüht, eine gewisse Sicherheit im Erinnern von Vorfällen oder Erfahrungen dieses oder früherer Leben zu erlangen, gibt er sich noch Täuschungen hin. Denn alles, was er zurückrufen kann, sind nur Bilder, die er bei seiner Wanderung durch die verschiedenen Stufen des Noch-nicht-unterscheiden-könnens in sich aufnahm. Wir brauchen keine Bestätigung dafür, daß wir existiert haben; denn die Tatsache, daß wir jetzt existieren, ist Beweis genug dafür. Was wir brauchen, ist die Verwirklichung unserer wahren Natur als bedingungslose Bewußtheit. Es ist leicht, irgendeine erlebte Situation zurückzurufen, denn das Bild liegt auf irgendeiner Ebene unseres Seins – eben weil es als Erfahrung in unser Leben trat – aufbewahrt. Wir vermögen uns aufs genaueste an alles zurück zu erinnern, wenn wir es wirklich wollen. Oftmals versagt unser Gedächtnis nur deshalb, weil wir nicht gerne die Verantwortung für früheres Tun übernehmen, oder weil wir das mit der Erinnerung verbundene Gefühl des Leides fürchten. Einen wirklichen Sinn hat unsere Erinnerung nur dann, wenn wir uns durch die zurückliegenden Jahre und Inkarnationen halb-traumhafter Erfahrungen auf unsere wahre Natur besinnen. Wir müssen nicht zu irgendeiner hohen Bewußtseinsstufe emporsteigen, wir müssen uns nur unserer gegenwärtigen hohen Bewußtseinsbeschaffenheit bewußt werden bzw. uns ihrer erinnern.

Roy Eugene Davis

Roy Eugene Davis

Roy Eugene Davis ist Gründer und Leiter des Zentrums für spirituelles Bewußtsein (CSA, Lakemont/GA). Alle authentischen Aufklärungstraditionen werden hier geehrt und die angeborene, göttliche Natur jedes Menschen wird anerkannt. Roy Eugene Davis begann 1949 seine spirituelle Schulung bei Paramahansa Yogananda und wurde von ihm in Meditationsmethoden wie Kriya Yoga eingeweiht. Seit mehr als 50 Jahren lehrt er weltweit die geistigen Gesetze sowie Kriya Yoga.
Er ist weltweit anerkannter Autor vieler Bücher in mehreren Sprachen, die auf die Fragen der Zeit inspirierende Antworten geben, und die in allen fünf Kontinenten verbreitet sind.