UNSERE GANZHEIT UMARMEN

Ein Interview von Ronald S. Mllier mit John A. Sanford – Aus: Science of Mind-Magazin, übersetzt von Günter Herrmann

Obwohl wir es lieber nicht zugeben würden, jeder von uns hat eine Doppelnatur: einen Dr. Jekyll, der ein freundliches Gesicht nach außen zeigt, und einen Mr. Hyde, ein nächtliches Selbst, das unsere dunkleren Gedanken und Impulse beherbergt, was die Tiefenpsychologie den »Schatten« nennt. Während der Schatten unsere aggressiveren, sozial unakzeptableren Impulse beinhaltet, so der Psychologe lohn Sanford, hält er auch einen verborgenen Schatz an Möglichkeiten bereit, der unser Leben emotional reicher und kreativer machen kann. Wenn wir den Schatten kennenlernen und eine respektvolle Beziehung mit ihm entwickeln, können wir eine echte Selbstannahme erreichen und als ganzheitliche menschliche Wesen leben, die Frieden haben mit unserer bewußten Persönlichkeit und unseren unbewußten Tiefen.

John A. Sanford ist ein international bekannter Analytiker nach C.G. Jung, der sechzehn Bücher geschrieben hat, von denen sich die meisten mit Psychologie, Religion und innerem Wachstum befassen. Sanford ist ordinierter Priester und absolvierte sein Psychologiestudium am C.G. Jung-Institut in Los Angeles.

Wie die Tiefenpsychologie herausstellt und viele aus persönlicher Erfahrung bestätigen können, besitzen wir eine dunkle Seite in unserer Natur, die zu unseren hoch gesteckten Idealen von Anständigkeit und Moral im Widerspruch steht. Bei dem Bemühen, ein rechtschaffenes Leben zu führen, entdecken wir manchmal, daß Gefühle und Beweggrunde wie Eifersucht, Übelnehmen und Gier verdeckt unter der Oberfläche unserer Persönlichkeit liegen. Wie erklärt die Psychologie diese dunkle Seite?

Als Kinder identifizieren wir uns mit idealen Merkmalen und entwickeln eine Ich-Persönlichkeit, die sich im Allgemeinen an der jüdisch-christlichen Ethik orientiert. Durch den Einfluß von Eltern, Erziehern und der Kirche streben wir danach, uns an ein Ich-Ideal anzupassen, das nett, liebend, vergebend, ehrlich und respektvoll ist. Indem wir uns mit diesen tugendhaften Qualitäten identifizieren, unterdrücken wir oft einige unserer dunkleren, jene wie Wut, Eifersucht, Gier und unkontrollierten sexuellen Trieben. Die zurückgewiesenen Qualitäten hören nicht einfach auf zu existieren, nur weil ihr direkter Ausdruck untersagt wurde, Statt dessen bilden sie eine zweitrangige Persönlichkeit, die der Schweizer Psychiater C.G. Jung den  »Schatten’« nannte. Dieses andere Ich steht im

Widerspruch zu dem äußeren Antlitz, das wir der Welt präsentieren, welches Jung die »Persona« nannte. Die Bezeichnung, die aus dem antiken griechischen Theater stammt, bezieht sich auf die Masken, die die Akteure trugen, um die zahlreichen Persönlichkeiten zu beschrieben, die sie auf der Bühne darstellten. Aus psychologischer Sicht bezieht sich die Persona auf eine »Maske«, die wir im Alltagsleben tragen, die Persönlichkeit, wie wir von anderen gesehen werden wollen. Während wir die Persona als unser »Sonntags-Selbst« charakterisieren könnten, enthält der Schatten die dunkle, gefürchtete ungewünschte Seite der Persönlichkeit, die wir vor anderen und uns selbst verstecken.

Wie können wir den Schatten in unserem Leben erkennen?

Wir können unseren Schatten als eine gleichgeschlechtliche Figur in unseren Träumen erkennen, welche die Qualitäten verkörpern, die das unterbewußte Ich für untergeordnet hält. Zum Beispiel könnte ein Kirchenmann, der danach strebt, sich christlichen Standards von Freundlichkeit und Licht anzugleichen, von seinem Schatten als einen rücksichtslosen Geschäftsmann oder als einen machthungrigen politischen Führer träumen. Unter der zurückhaltenden sorgenden Persona erinnert der Schatten ihn an die aggressiveren, selbstherrlichen Aspekte seiner Persönlichkeit, die seinem Ich-Ideal zuwider laufen. Ähnlich könnte eine Frau mit einem unterdrückten erotischen Leben von ihrem Schatten als einer Hure träumen, die ein Boot verwegen einen Fluß hinuntersteuert. Verallgemeinert können wir sagen, während der Schatten weder gut noch schlecht an sich ist, steht er im Widerspruch zu dem, was auch immer wir an bewußter Einstellung angenommen haben.

Der Schatten verändert sich von Kultur zu Kultur. Wenn Du im NaziDeutschland groß geworden wärst, könnte Dein Ich-Ideal im Widerspruch zu christlichen Standards von Anständigkeit stehen. Anstatt liebenswürdig und vergebend zu sein, verkörperten die Nazis ein Kriegerideal, das hervorhob, stark, aggressiv und kriegerisch zu sein. Auf ähnliche Art verschreiben sich Bandenmitglieder in den Innenstädten einer Ethik, die Kriminalität und Brutalität betont. In beiden Fällen enthalten die Schatten der Nazis und der Bandenmitglieder positive Qualitäten wie Liebe, Freundlichkeit und Vergeben. Für die meisten von uns jedoch läßt uns der Schatten die dunkleren, unschmackhaften Aspekte von uns konfrontieren, die wir lieber nicht sehen würden.

Jung hebt hervor, daß der Schatten 90 % pures Gold ist, während wir allgemein von ihm in strikt negativer Weise denken. Was ist so golden, wenn wir mit verdrängten Anteilen von uns Kontakt aufnehmen, z.B. mit Wut und sexuellen Instinkten?

Der Schatten enthält viele vitale Qualitäten, die unsere Persönlichkeit stärken können. Mit unserem anderen Ich auf gutem Fuß zu stehen, läßt uns in Beziehungen, Beruf und Hobbies kreativer und energievoller werden. Wenn wir die Schattenenergien nicht nutzen, könnten wir den Kontakt zu den natürlichen instinktiven Kräften verlieren, die wir benötigen, um effektiver zu leben.

Wenn Du z.B. Deine Wut unterdrückst, verringert sich Deine Fähigkeit, mit Mut und Entschlossenheit zu handeln. Ein Mensch, der danach strebt, nur freundlich und »christlich nett« zu sein, könnte rücksichtslosen Menschen zur Beute werden, die  merken, daß unter seinem äußeren Verhalten Passivität und Feigheit stecken. Durch Kontaktaufnahme mit seiner selbstbehauptenden Energie kann dieser Mensch eine angemessene Wut ausdrücken, die der Psychologe James Hillmann eine »gesunde Reaktion auf eine nicht tolerierbare Situation« nennt. Vom biblischen Gesichtspunkt aus kann er sich gegen Widersacher mit einem »heiligen Zorn« verteidigen, so wie Jesus die Geldwechsler aus dem Tempel warf. Der sich nicht behauptende Mensch schlägt pures Kapital, wenn er seine Wut integriert, weil er nun sein Opfersein beenden kann. Falls Du von instinktiven sexuellen Gefühlen abgeschnitten bist, kann das »Umarmen« der sexuellen Energie, die im Schatten enthalten ist, Dir helfen, eine gesunde sexuelle Beziehung herzustellen.

Obwohl sogar das Annehmen des Schattens beträchtliche psychologische Dividende auszahlt, vermeiden die meisten von uns, unserer dunklen Seite zu begegnen. Warum sträuben wir uns so, unseren inneren Widersacher zu umarmen?

Wir mögen uns z.B. für vernünftige spirituelle Leute halten, die immer Jesu Geboten folgen, einander zu lieben. Doch wenn wir mit Gedanken und Gefühlen konfrontiert werden, die uns gesetzlos, unmoralisch oder zerstörerisch vorkommen, reagieren wir oft mit Angst und Widerstand, weil unser Ich-Ideal herausgefordert wird. Wenn wir diese dunkleren Aspekte unserer Persönlichkeit akzeptieren, würden wir etwas von unserer moralischen Selbstachtung verlieren, aber zur gleichen Zeit an Demut gewinnen, da wir die Distanz zwischen unserem authentischen und unserem idealisierten Selbst schließen. Anstatt unser Selbstbild auf diese Weise zu verändern, verbannen wir oft die unerwünschten Gedanken und Gefühle ins Unbewußte, wo sie ein eigenständiges Leben annehmen. Wenn der unterdrückte Inhalt unerwartet hochkommt und uns durch eine Explosion von Wut oder lästigen sexuellen Phantasien überwältigt, kann die freigelassene Schattenenergie Verwüstung innen und außen anrichten.

Oft widersetzen wir uns, den Schatten in unser Bewußtsein einzulassen, aus Angst, von ihm überwältigt zu werden. Wir fürchten, wenn wir unsere dunkle Seite sehen, daß wir selbst dunkel werden. In der Praxis jedoch ist das Gegenteil wahr: wir laufen Gefahr, von dem inneren Widersacher überwältigt zu werden, wenn wir ihn nicht anerkennen, weil der Schatten, wenn er nicht anerkannt wird, sich auf vielfältige Weise in unser Leben eindrängen kann.

Wenn wir die Existenz des Schattens verneinen, projizieren wir ihn dann nicht auf andere Menschen?

Absolut! Übertragung findet statt, wenn wir nicht anerkannte Teile von uns in anderen Menschen sehen. Durch Übertragung verbinden wir uns mit lebenswichtigen Aspekten unserer Persönlichkeit auf unbewußte Weise. Wenn andere unsere dunkle Seite widerspiegeln und austragen, mögen wir sie hassen oder fürchten, weil sie uns an Qualitäten erinnern, die, wir von geringerem Wert oder unakzeptabel für uns halten. Zum Beispiel könnte eine ruhige, introvertierte Frau auf einer Party das Benehmen einer anderen Frau als aufdringlich und vulgär verurteilen, weil diese sich selbstbewußt mit Männern bekannt macht. Das Mauerblümchen könnte sagen: »Wie abscheulich! Es ist so dreist und schamlos, wie sie sich an Männer ranschmeißt.« In diesem Fall erfährt die Frau ihr unterdrücktes Selbst durch Übertragung. Weil sie von ihrem eigenen Verlangen abgeschnitten ist, überträgt sie unbewußt ihren unakzeptablen Teil auf die sich selbstbehauptende Frau.

Wenn wir jemandem begegnen, den wir hassen, würden wir uns gut daran tun, zu fragen, ob wir etwas Unakzeptables in uns auf die andere Person übertragen. Wenn wir erkennen, daß die Konfliktquelle in unserem eigenen Innern ist, können wir lebenswichtige Aspekte von uns wiedergewinnen, die von unserer bewußten Persönlichkeit ausgeschlossen waren. Um dies zu tun, müssen wir den Scheinwerfer des Bewußtseins nach innen drehen, unsere Übertragung zurücknehmen und aufdecken, welche Qualitäten wir in der anderen Person gespiegelt sehen.

Wenn wir den Schatten normalerweise auf Individuen übertragen, tun wir das nicht auch auf einerkollektiven Ebene?

Ja, und dieser Prozeß transformiert Minderheitsgruppen, religiöse Gruppen und Nationen in Sündenböcke und Feinde. Die Tiefenpsychologie lehrt, daß gesellschaftliche und religiöse Gruppen, ebenso wie Kulturen und Nationen kollektive Ich-Ideale haben, die wiederum kollektive Schatten erschaffen. So wie wir niedere oder unakzeptable Qualitäten auf eine individuelle Person übertragen, so übertragen wir auch die Qualitäten, die unvereinbar mit unserem hochgeschätzten Selbstbild sind, auf Völkergruppen.

Zum Beispiel übertragen weiße Völker oft ihre unterdrückten niederen Qualitäten auf schwarze Völker. Auf die gleiche Weise übertrugen die Nazis ihre Schatten auf die Juden, so daß diese als alles Böse, Niedrige und Bedauerliche in der deutschen Kultur angesehen wurden. In ihren eigenen Augen sahen sich die Völker der »Herrenrasse« als diejenigen, die die nobelsten, heroischsten und kulturell höherstehenden Qualitäten besitzen. Indem sie diese Art gesellschaftlich geisteskranker Verdrehung vornahmen, fühlten sich die Nazis gerechtfertigt, ihre bösesten sadistischen Impulse auf die Juden zu entladen. Auf gleiche Weise hat die Regierung der Vereinigten Staaten Indianer mit einer Skrupellosigkeit und Grausamkeit ausgerottet, die in jeder Hinsicht genau so schlimm war, wie der Versuch der Nazis, die Juden auszulöschen.

Bedeutet dann Krieg unter diesem Gesichtspunkt, den Schatten auf eine Gruppe zu übertragen, den Feind zu entmenschlichen und zerstörerisch zu handeln, um letztlich die eigenen niederen Elemente auszutreiben?

Das ist richtig. Um Frieden in der äußeren Welt zu finden, müssen wir dann diesen Prozeß umkehren, indem wir den Schatten umarmen und uns mit unserem inneren Widersacher aussöhnen. Mit dem inneren Feind umzugehen, erfordert große psychologische Reife und Mut. Jesus, der Musterpsychologe, rät uns, wie wir mit unserem inneren Widersacher Frieden machen, indem er sagt: »Werde mit Deinem Gegner handelseinig in guten Zeiten, wenn Du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist, oder er wird Dich dem Gericht übergeben und der Richter dem Gerichtsdiener und Du wirst ins Gefängnis geworfen.«

Der Gegner, auf den Jesus sich in diesem Gleichnis bezieht, ist wirklich der Schatten. Die Ich-Persönlichkeit weigert sich oft störrisch, mit dem Schatten Frieden zu schließen. Aber wie die christlichen Schriften hervorheben, beginnt das neue Leben mit »metanoia«, was gewöhnlich als »Reue« übersetzt wird, was aber eine komplette Kehrtwendung im Bewußtsein und eine Umkehr in der Lebens-Orientierung bedeutet.

Diese Transformation beinhaltet, sich von der Identifikation mit der Persona zu lösen, den Schatten zu konfrontieren und ganz zu sein. Während wir unsere innere Teilung heilen, geben wir den unmöglichen Versuch auf, nur gut und perfekt zu sein. Dieser Zugang zum Leben macht uns starr und unnatürlich, da wir zuviel von unserer vitalen Lebensenergie unterdrücken, um unseren Schatten verborgen zu halten.

Wann immer wir unsere momentane Fähigkeit für Güte zu überschreiten versuchen, bringen wir Böses zustande, weil unsere Anstrengung, Licht ohne Dunkelheit zu haben, eine Anhäufung von Dunkelheit im Unbewußten erzeugt, die uns schließlich überwältigt.

Ist dies nicht genau das, was in jener fabelhaften Moralgeschichte »Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und M,: Hyde« passiert?

Ja. Die Geschichte enthält psychologisch nützliche Einsichten in die moralischen Dimensionen des Schattenproblems. In der Geschichte entdeckt Dr. Henry Jekyll, ein hervorragender Wissenschaftler, daß er eine doppelte Natur hat: eine angesehene »lichte« Persönlichkeit und einen dunklen Gegenspieler mit Wünschen, die im Gegensatz zu seiner Persona stehen. Dr. Jekyll braut eine Droge zusammen, die es ihm ermöglicht, sich in Edward Hyde zu verwandeln, einen haßerfüllten verunstalteten Mann, der zu Beginn an »unwürdigen Vergnügungen« teilnimmt, aber der allmählich die Jekyll-Persönlichkeit mit zunehmend schlimmeren Handlungen überwältigt. Als Hyde einen von Jekylls Kollegen ermordet, lebt der Wissenschaftler in solch einem Horror vor seinem Widersacher, daß er sich schließ1ich das Leben nimmt.

Die Erzählung präsentiert machtvoll den dramatischen Beweis, wie wir das Schattenproblem nicht lösen sollen. Jekyll strebt heimlich danach, Hyde zu sein, ohne seine Persona der Güte aufzugeben. Weil Jekyll die Spannung nicht aushalten kann, indem er für beide Seiten seiner Natur verantwortlich ist, verleugnet er vorübergehend seine Persona und bringt seinen Schatten zum Ausdruck, was von Vergnügen suchenden Unheil zu Handlungen von völliger Bosheit führt. Als Jekyll sein Potential fürs Böse bewußt wird, beschließt er, Hyde vollkommen zu vermeiden. Dieser Akt der Unterdrückung versagt jedoch, weil die dunkle Energie, die sich im Unbewußten angesammelt hat, in Handlungen ausbricht, die die Jekyll-Persönlichkeit überwältigen. Wenn also Ausdruck und Unterdrückung des Schattens das Schattenproblem nicht lösen, was dann?

Um vollkommene menschliche Wesen zu werden, müssen wir unser Bewußtsein erweitern, indem wir die Spannung zwischen den Gegensätzen in uns aushalten. Wir müssen akzeptieren, daß wir Licht und Dunkelheit sind, Ich und Schatten. In solch einem Schwebezustand kann Gottes Gnade in uns wirken. Indem wir Schattenqualitäten einverleiben, wird das Ich demütiger, weil die bewußten und unbewußten Elemente der Persönlichkeit in Harmonie zusammenarbeiten. Wir können leichter Führung vom Selbst empfangen. das in der Psychologie nach C.G. Jung das Zentrum und der Umfang der Persönlichkeit ist, die Domäne der größeren Persönlichkeit, die beide umarmt, das Ich und die Inhalte des Unbewußten. Das Selbst enthält den Entwurf für unsere Entfaltung in vollkommene und voll ständige Wesen, ein Prozeß, den Jung »Individuation« nannte. Sich durch Schattenprobleme durchzuarbeiten spielt eine entscheidende Rolle auf dem Individuationspfad und macht den Weg frei für eine tiefere Beziehung zum Selbst.

Besteht die Gefahr, wenn wir uns der dunklen Seite annehmen, daß wir dem Zauber des Bösen unterliegen, wie mit Henry Jekyll geschehen?

Diese Gefahr besteht nur, wenn wir aufhören, uns dem Schatten gegenüber von einem moralisch starken und sicheren Ich zu verhalten, und wenn wir die Linie zwischen unserer persönlichen dunklen Seite in das Reich des archetypischen Bösen überschreiten. Das ist es, was Jekyll passierte, weil er statt mit seinem Schatten in Beziehung zu treten, sich völlig mit ihm identifizierte und sich erlaubte, von seinen zerstörerischen Energien in Besitz genommen zu werden. Zu den Gründen, warum wir die jüdisch, christliche Ethik leben sollen, gehört der, daß sie uns vor einer überwältigenden Begegnung mit dem Bösen schützt. die jenseits unserer Fähigkeit liegt, ihr zu widerstehen. Falls wir ein ausreichend entwickeltes Gefühl von Moral entwickelt haben, können wir in eine Beziehung mit unserer dunklen Seite eintreten und ihre Energien sicher integrieren, um unsere Persönlichkeit zu bereichern.

Laßt uns klar darüber sein: der Schatten ist nicht der Teufel oder keine Form einer von übersinnlichen bösen Kraft. Egal wie dunkel und zerstörerisch der Schatten zu sein scheint, egal wie dunkel oder bedrohlich eine Figur in unseren Träumen sein mag, der Schatten verkörpert positive Qualitäten, die der Gesamtpersönlichkeit dienen können.

Kannst Du Beispiele anführen, wie Jesus mit dem Schatten umging?

Jesus Versuchungen in der Wüste sind Schattenbegegnungen. Nachdem er durch Johannes getauft wurde und vierzig Tage fastend in der Wüste zubrachte, wurde Jesus von Satan versucht, Steine in Brotlaibe zu verwandeln, sich von einer Zinne des Tempels hinabzuwerfen und alle Königreiche der Welt zu besitzen, wenn er Satan verehren würde. In diesen Versuchungen können wir Satan als eine übersinnliche Figur ansehen, als eine Verkörperung des Bösen. Aber wir können ihn auch als eine Personifizierung von Jesus potentieller Ichbezogenheit ansehen. Jesus wies die Versuchungen zurück, weil sie seine Ichbezogenheit erhöht hätten und ihn vom Kontakt mit seinem göttlichen Zentrum abgeschnitten hätten.

Jesus hätte von seiner einzigartigen Persönlichkeit und den Kräften, die Satan ihm angeboten hatte, Gebrauch machen können für all die selbsterhöhenden materialistischen Kräfte, die Satan ihm angeboten hat. Er hätte wie viele der östlichen Gurus werden können, die nach Amerika kommen und die durch Sex, Macht und Wohlstand versucht sind. Aber weil er bewußt mit seinem Schatten einig geworden ist, unterlag er nicht seiner dunklen Seite. In der Sprache von C.G. Jung heißt dies: weil Jesus nicht durch seine spirituellen Werke sein Ego aufblies, identifizierte er sich nicht mit dem Archetyp, der behauptet hätte, die göttliche Macht selbst zu sein. Indem er wahre Demut demonstrierte, sagte er: »Aus mir heraus kann ich nichts tun«, was das Kennzeichen einer universellen Persönlichkeit ist, die nie ihre spirituellen Kräfte benutzt, um das Ego zu befriedigen.

Diese Beispiele legen nahe, daß die Aussöhnung mit dem Schatten eine entscheidende Rolle im spirituellen Leben spielt.

Ja. Jene, die sich wünschen, das, was Jesus das Königreich Gottes nannte, zu betreten, müssen nach Selbstannahme streben, was die Aussöhnung mit jenen Teilen der Persönlichkeit mit einbezieht, die als gering, niedrig und teuflisch erscheinen. Wenn wir dies tun, umarmen wir unsere Ganzheit als menschliche Wesen. Wenn wir unsere Fehler akzeptieren, können wir das, was am niedrigsten in uns ist, zu seinem höchstem Potential und seiner größten Fähigkeit zur Liebe transformieren.