Vom letzten Sonnenlicht eingefangenes hüftlanges blondes Haar. Wellengleich bewegte es sich mit den Tönen, die ihre schmalen Finger den schwarzweißen Tasten meines Flügels entlockten.
“Dieser Bereich ist für Nichtbefugte verboten”, machte ich mich bemerkbar und vermochte nicht zu sagen, was sie dabei empfand als ich mich einfach zu ihr setzte. Ich unterließ es, ihr auch nur ansatzweise zu vermitteln, daß dies mein Instrument, sowie mein Hocker waren, welche sie wie selbstverständlich besetzte und darüber verfügte.
“Verbote! So viele Einschränkungen! Einige Verbote sind da, um gebrochen zu werden, weil sie unsinnig sind. Dinge zu tun, die niemanden schaden, wie zum Beispiel dieser wunderschönen Lady, dieser Kostbarkeit der Handwerkskunst, die Möglichkeit einzuräumen, von mehr als nur einem Meister bespielt zu werden, gehören definitiv nicht untersagt.”
Ihre Logik warf mich kurz aus der Bahn.
“Es ist nicht mal Mundraub, ich stehle auch nichts. Welche Strafe würden Sie als gerecht erachten, daß ich dieser Schönheit nicht zu widerstehen vermag. Zehn Euro pro Tastenschlag? 100 Euro pro beendetem Lied? Möchten Sie mein Spielen wirklich mit Geld aufwiegen?”
Oh nein, sie stahl nichts, nichts außer meinem Herzen.
“Sie schauen mich nicht an”, flüsterte sie, während ihr rechter kleiner Finger meinen Linken flüchtig streifte. Wir bekämpften einander nicht, versuchten einander nicht zu beweisen, wer von uns beiden den Flügel, meine White Lady, virtuoser beherrschte. Statt dessen erschufen wir eine Glocke aus Gefühlen, die einzig uns umhüllte, komponierten wir eine Notenbrücke, die nur uns miteinander verband, tanzten unsere Finger einen einzigartig melodischen Reigen, atmeten wir die Moll Akkorde des jeweils Anderen ein, ließen wir einfach so, ganz spontan, eine Insel aus einem imaginären Ozean emporsteigen – jungfräulich, unberührt, intakt.
Ich fühlte die Schmerzen, die mich übermannten, weil dieser Zauber, diese Illusion, irgendwann und unweigerlich, von mir, von ihr, von uns und unseren Fingern, einfach so ausradiert werden würde, und ich hoffte so sehr darauf, daß auch sie sah, was Grandioses wir beide gerade erschufen.
“Du wendest Dich mir doch ebenfalls nicht zu.” Mein Mund schien voller Sand, mein Hals war trockener als die Wüste Gobi, beides bewirkte, meine Stimme war tiefer und rauer als sonst.
“Du hast Recht, jedoch, was bringt es schon sich anzuschauen, zwei Fremde, die einander flüchtig begegnen, die sich vermutlich niemals wiedersehen werden, einzig unser Unterbewußtsein nimmt wahr und trennt Wichtiges von Unwichtigem, um sich so auf das Wesentliche, möglicherweise auf das Überleben zu konzentrieren.
Hast Du es nicht schon bereits erkannt, manchmal wird Sehen überbewertet? Sag, was wird Dir von unseren gemeinsamen Minuten in Erinnerung bleiben? Bei mir werden es all die Empfindungen sein, wie, die Berührungen der Tasten, Deine Stimme, Deine Präsenz, Dein Geruch, die Stille die uns umgibt welche wir gerade erschaffen, weil wir die Zeitachse biegen, damit wir um uns herum unsere ganz eigene Dimension errichten…
Sie bemerkte es nicht, doch, sie war ganz selbstverständlich beim Du angelangt. Die sprachliche Distanz war glücklicherweise aufgehoben, denn das, was wir gerade teilten, war, Nähe pur, war, Sinnlichkeit auf einer höheren Ebene, nicht körperlich, sondern geistig mental.
“Du bist noch so jung, wie …?”
“Ihr Erwachsenen.“ Ich erfaßte ihr spöttisches Lächeln. “Man kann jung sein und dennoch eine alte weise Seele in sich tragen. Erschreckt Dich das? Fürchtest Du Dich davor mir nicht gewachsen zu sein, oder aber schlimmer noch, hast Du Angst davor, daß ich trotz meiner Jugend über mehr kollektives Bewußtsein verfüge, erschrecken Dich meine Emotionen?”
Ein Juwel an meiner Seite. Talentiert, weise, höflich, so viele positive Attribute, jedoch ihre Art zu denken, war das, was ich mehr noch als alles andere an ihr schätzte.
Stille, in dem von uns erschaffenen Vakuum. Ich betrachtete ihre gepflegten Hände, ihre Finger, die nun ruhig und ausgestreckt auf ihren Oberschenkeln ruhten. Manikürte Nägel, transparent lackiert, einzig sie, ihr bescheidenes Wesen unterstreichend. Schwarze Jeans, taubenblaues T-Shirt, dazu taubenblaue Socken und Sneekers. Ein Hauch von Vanillearoma ummantelte ihre helle Haut.
“Worte, die nichts sagen! Bitte, sprich sie nicht aus, denn ich kann und werde nicht bleiben”, würgte sie charmant meine Frage ab. “Zu viele Probleme, vermutlich auch Du. Zusammen potenzieren sie sich, wir würde uns vermutlich aufreiben und Chaos habe ich in meinem Leben genug.”
Der Drang, eine ihrer Hände zu ergreifen übermannte mich. Ihre begnadet schnellen Finger zu berühren – Ich beneidete meine White Lady um dieses Privileg.
Manchmal spürt man es sofort, wenn ein besonderer Mensch die eigene Seele tief berührt. Flüchtigkeiten – Es sollte nicht hier und jetzt enden! Ich bat sie mich anzusehen, um wenigstens ihr Bildnis in mir bewahren zu können. Sie konterte damit, daß ich mein Gesicht hinter etlichen Schichten Schminke verbarg.
Die Maske, ich hatte sie völlig vergessen. Keiner meiner Fans kannte mein Gesicht, meine Privatsphäre blieb mir so erhalten. Sie war kein Fan, das hatte ich sofort erkannt, sie wußte nicht mal wer ich war, in welcher Band ich sang und spielte, was für eine Art von Musik wir machten.
Sie erfaßte meine Gedanken, glitt förmlich in meinen Kopf hinein und teilte mir leise aber bestimmt mit, daß sie kein Groupie sei.
“Tut mir Leid, ich wollte nicht schroff sein!” Ihre kaum hörbare Entschuldigung tat meiner verletzten Seele gut, da Groupies, im Gegensatz zu meinen Freunden, Tabu für mich waren. Drogen, Alkohol, Frauen, das alles lag lange hinter mir. Als Musiker lebt man schnell, exzessiv, intensiv und zerstörerisch, es gilt ein gesundes Maß zu finden.
Und dann, völlig unerwartet, tat sie das, was ich mich nicht zu trauen gewagt hatte, ihre warmen Fingerkuppen berührten meine linke Hand.
“Mehr als das hier, diese kleine Geste der Dankbarkeit, dafür, daß Du mich hast gewähren lassen, daß ich auf diesen perfekt ausgerichteten/ gefertigten Klangkörper habe spielen dürfen, kann ich Dir nicht geben.”
Der Hauch einer Berührung – Ich gab mich damit zufrieden, wenngleich ich nicht wirklich zufrieden damit war.
“Hornhaut! Gitarre?” Ihre Neugierde, etwas mehr über mich herauszufinden, war geweckt. “Deine Finger, sie sind so wohlgeformt, ich mag es sie zu betrachten und erahne, was Du in der Lage bist damit alles anzustellen.”
Tiefes Rot auf ihren Wangen. Beide mußten wir über diese unbeabsichtigte Zweideutigkeit lachen.
“Verrätst Du mir Deinen Namen?”
“Ein Name, was ist das schon, nichts weiter als Schall und Rauch. Du kannst ihm nur eine Bedeutung beimessen, würde diese Begegnung mehr als nur ein einmaliges Intermezzo sein. Keine Gefühle, keine Bindung, einzig ein wunderbarer Augenblick, nach dem wir später einmal in unseren Erinnerungen werden kramen müssen.
Möglicherweise stellen wir dann fest, daß dies kein Höhepunkt, kein lebensveränderndes Zusammentreffen war. Alles verblaßt, alles staubt ein, das Holz hat sich verzogen, die Schublade, in dem sich eines Deiner Lebensbücher befindet, klemmt – Und, falls Du nicht mit einem photographischen Gedächtnis gesegnet bist, hast Du die Seitenzahl vergessen, welche das Hier uns Jetzt anschaulich und ausführlich beschreibt.
Manchmal wirst Du flüchtig in einen Duft eintauchen, Dich in unserer Stille wiederfinden, Moll-Akkorde vernehmen, eine Stimme, die der Meinen gleicht, hören, jedoch diese verblichenen Puzzleteile werden sich nicht wieder zusammenfügen lassen, denn Fragmente ergeben nun mal kein stimmiges Ganzes, erschaffen nun mal kein plastisches Bild. Einzig Materie kannst Du halten, so lange diese gewillt ist zu bleiben.”
Das wunderschönste, das blumigste, das poetischste Lebewohl, das ich jemals vernommen hatte. Jedoch, sie irrte sich, ich war in der Lage, all das nicht nur für mich festzuhalten, nein, die ganze Welt würde hiervon erfahren.
Zeile um Zeile, Wort für Wort, Note für Note, Akkord für Akkord – Mein Herz und meine Seele texteten und komponierten – Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter, war jedoch nicht in der Lage, meine die Einsamkeit mehr als sonst spürende Seele zu beruhigen. Die Schmerzen über ihren Verlust halten an, sie sind allzeit zugegen – In jeder neuen Stadt suche ich sie im Publikum, warte ich darauf, daß sie eventuell erkennt, wie viel wir einander hätten geben können.
Federkiel
Federkiel – eine anonyme Liebhaberin der Realitäten. Ich konnte sie gewinnen, auch hier zu publizieren und danke ihr dafür, daß wir an ihren tiefen Gefühlen teilnehmen dürfen.