Viele mir bekannte Menschen, einschließlich meiner selbst, empfinden es zeitweise oder oft als Herausforderung, während den Verpflichtungen und gewohnheitsmäßigen Tätigkeiten des Alltags in einem innerlich freien, frohen und lockeren Zustand zu sein. “Der Alltag holt mich immer wieder ein” ist dafür eine der typischen Aussagen. Was uns konkret einholt, sind begrenzte Perspektiven, also Sichtweisen oder Standpunkte in unserem Bewußtsein, die nicht von einer höheren Warte aus die Situationen um uns und die Zustände in uns erfahren lassen.
Die Freiheit und Kreativität, die uns durch unseren Geist zu eigen ist, drückt sich insbesondere darin aus, daß wir unsere Einstellung oder Perspektive wechseln können. Und umgekehrt: gelingt es uns, unsere Perspektive zu wechseln, führt uns dies oft zu größerer Freiheit und zu unserem Potential an Stärke, Kreativität und Glück.
Die Perspektive wechseln kann z.B. so aussehen: Ich denke stunden- oder tagelang an einem Problem herum, bzw. es fühlt sich so an, als »denke das Problem mich, als hätte es mich im Griff«. Irgendwann wird mir bewußt, daß ich gefangen bin bzw. daß ich mich einfangen ließ von der alten Neigung, Probleme zu wälzen. Plötzlich sehe ich das Schauspiel vor mir, sehe sozusagen das Programm »Probleme wälzen« in meinem Kopf, das ich immer wieder abgespult habe. Die Perspektive hat sich gewechselt, und ich erkenne, daß ich das Programm stoppen kann. Welche Erleichterung! Zwar ist die Situation im Äußeren noch nicht gelöst, doch ich fühle mich gelöst und entspannt und nicht mehr in der Mühle des sich ständig wiederholenden Programms. Die Gelöstheit in mir führt dazu, daß mir eine Lösung einfällt, ohne daß ich das Problem wälze. Und von außen kommt ebenso eine Lösungsmöglichkeit auf mich zu.
Leben heißt lernen und genießen, sich selbst und die Wirklichkeit unter neuen und größeren Perspektiven zu sehen.
Ein Perspektivenwechsel kann plötzlich geschehen wie ein Geschenk, das wir nur anzunehmen brauchen. Doch oftmals erfordert er unseren Einsatz, z. B. daß wir im Tagesablauf innehalten, uns zumindest innerlich herausnehmen aus dem Trubel oder den gewohnten Bahnen. Wenn wir einen Schritt zur Seite gehen oder uns eine schöpferische Pause gönnen, wird plötzlich eine der Möglichkeiten und Fähigkeiten, die Perspektive zu wechseln, in uns aktiv, und es öffnet sich ein innerer Raum, der uns mit mehr Weite, Leichtigkeit und Humor den Alltag erfahren und gestalten läßt.
Im folgenden schildere ich einige der kleinen Schritte, in denen ich mich übe, eine andere oder größere Perspektive einzunehmen.
Dankbarkeit
Dankbarkeit bietet uns z.B. mitten im Gefühl von Mangel, Versagen oder Enttäuschung die Möglichkeit, unsere Perspektive zu wechseln. Danken läßt uns auf das Gute, den Reichtum oder die Erfolge schauen, die schon da sind bzw. die wir schon erfahren haben, statt uns nur mit dem Blickwinkel zu belasten, was wir noch alles zu erreichen haben. Dankbarkeit gibt die Chance, den scheinbaren Mangel, das Versagen oder die Enttäuschung mit Kopf und Herz anzunehmen und sie als eine Erfahrung zu sehen, durch die wir wachsen.
Ent-Täuschungen als Verluste voll Kostbarkeit schätzen lernen, und jeder Tausch macht Dich reich und leicht.
Um mittels Dankbarkeit die Perspektive zu wechseln, kann folgende kleine Übung hilfreich sein: ich zähle oder schreibe bewußt und entschieden für mich das auf, was hier und jetzt in meinem Leben als Gutes und Angenehmes – gerade auch das Selbstverständliche – bereits vorhanden ist bzw. was ich bereits erreicht habe.
Staunen
Staunen ist eine unserer menschlichen Grundfähigkeiten, die in unserer schnellebigen Zeit mit einem Überangebot an Eindrücken und vorgefertigten Erlebnismustern immer weniger zum Zuge kommt bzw. immer mehr als nur passives Konsumieren von Medienereignissen erfahren wird. Nehmen wir uns z.B. die Zeit, das Wachsen und Blühen der Natur als etwas Wunder-Volles zu betrachten und zu erleben? Nehmen wir uns die Freiheit, das Selbst-Verständliche von einem anderen Blickpunkt unseres Selbst zu sehen und zu verstehen?
Staunen kann in uns geschehen, wenn wir unsere liebevolle Aufmerksamkeit aktivieren, ein Ding oder einen Menschen mit ihr betrachten, oder wenn wir die kindliche Neugier wieder ausgraben, die uns etwas neu oder wie zum ersten Mal sehen läßt. Staunen ermöglicht, den Zwischenraum zu sehen, den wir vor lauter Gewohnheit, Trubel oder Streß normalerweise übersehen. Wenn wir ihn wahrnehmen, können wir damit kreativ werden, wie z.B. der Dichter Christian Morgenstern:
Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da.Und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.
Wenn wir wirklich mit Neugier hinschauen und staunen, gelingt uns ein Perspektivenwechsel, der uns zu einem geistigen Raum an Freiheit führt, (das »große Haus« des poetischen Architekten), in dem wir neue Räume gestalten können, die sich dann auch in der äußeren Erfahrung in neuen persönlichen oder kollektiven Verhältnisse auswirken können.
Selbst-Gespräche
Wie Gespräche mit anderen sind auch Selbstgespräche etwas ganz natürlich Menschliches. Auch wenn wir nicht verbal oder laut mit uns sprechen, so vollziehen sich Selbstgespräche ständig in unserem Innern als ein innerer Dialog. Statt unbewußten, gewohnheitsmäßigen oder programmierten Selbstgesprächen können wir auch bewußt und kreativ mit uns sprechen und damit einen Perspektivenwechsel vornehmen. Zum Beispiel spreche ich manchmal mit meiner inneren kritischen Stimme, die mir sagt: »Ich bin nicht gut genug. Ich tue zu wenig usw.« Ich sage dann z.B. »Hallo, da bist du wieder. Ich höre dich. Es stimmt, ich könnte noch viel besser sein und noch viel mehr tun. Du erinnerst mich an enorme Möglichkeiten. Doch so wie es jetzt ist, ist es gut. Und ich brauche jetzt nicht mehr tun. Ich lasse mich jetzt sein. Wenn der spontane Impuls oder eine Idee kommt, dann tue ich wieder mehr.«
Ein Selbstgespräch dieser Art hilft mir, mich von der Macht und Sichtweise des inneren Kritikers (oder Antreibers) zu lösen und eine weitere Perspektive einzunehmen, die den Kritiker nicht verdammt oder loshaben will und die jenem Bedürfnis oder jener Qualität erlaubt, da zu sein, die gerade jetzt anliegt oder stimmt.
Selbstgespräche verhelfen mir dazu, mich als wahrnehmendes Bewußtsein zu erfahren, das größer ist als all das, was in mir vorgeht. So spreche ich auch immer wieder mit meinem inneren Kind, mit den tiefen und starken Gefühlen, die der Annahme bedürfen.
Ein Satz, der manchmal Wunder wirkt, sind die drei Worte: “Ich liebe mich.” Sie erinnern mich an die Kraft der Liebe in mir, sie lassen mich diese aktivieren und vermitteln mir
ein wohliges Gefühl und auch eine andere Sichtweise oder Gelassenheit. Ich habe mit diesem Satz viele Jahre geübt, bis ich ihn als rund und stimmig annehmen und innerlich als echt erleben konnte.
Beten
Beten richtet sich an das große Du, das auch im Selbst wohnt. Das Gebet läßt sich beschreiben als eine Form des Selbstgesprächs, bei der wir über unsere gewohnte oder normale Selbst-Sicht hinausgehen und uns mit einem größeren kosmischen Selbst bewußt verbinden, das wir »Gott« oder »Leben« nennen können. Beten hilft uns, die Perspektive
zu wechseln und uns als Teil eines größeren Ganzen zu sehen, uns mit der unendlichen Kraft und Intelligenz bewußt und fühlbar zu verbinden. Beten ist für mich eine Erinnerung
daran, daß Gott oder das Leben mich liebt und mein Bestes will. Ich nehme wieder die Perspektive des Geliebt-Werdens und das Gefühl des Einsseins ein. Mit dieser Einstellung
bin ich annahmefähig für das bestimmte Gute, für das ich bete, und ich bin im Vertrauen. Beten ist ein Umschalten auf das Unendliche.
Humor
Manche Menschen haben einen wunderbaren Humor geerbt oder bereits als Kind von ihren Eltern erlernt. Andere müssen oder können sich ihn im leben erarbeiten. Doch jeder hat Humor als Fähigkeit in sich. Humor ist die Fähigkeit, eine ungewohnte Perspektive einzunehmen. Humor heißt auch, sich und die Dinge nicht zu ernst zu nehmen, das leben mehr als Spiel zu sehen. Echter oder spontaner Humor ist ein Perspektivenwechsel, bei dem wir unsere grauen Zellen einen Purzelbaum schlagen und unsere Bauchmuskeln wackeln lassen – ist daher trainierbar, doch zum Glück nicht programmierbar.
Das Leben ist viel zu wichtig, um es zu ernst zu nehmen.
Humor und kosmisches Bewußtsein
Beides heißt sehen von einem inneren Balkon aus:
heiter und großzügig blicken wir auf uns und unsere Gewohnheiten,
unsere Verhaltensweisen, unsere Stärken und Schwächen herab
wie auf ein Schauspiel, an dem wir uns belustigen.
“Lächeln”
Eine der einfachen und hilfreichen Perspektivenwechsel beginnt mit einer Bewegung unserer Gesichtsmuskeln, bei der die Mundwinkel etwas nach oben gehen. Das lächeln hat eine spürbare und wissenschaftlich nachgewiesene Entspannung zur Folge – eine Entspannung, die mir hilft, mein Herz zu öffnen und wieder mehr liebe fließen zu lassen. Ich lächle mir selbst zu, und das führt dazu, daß ich mich selbst wieder mehr annehme und liebe. Ich lächle dem leben zu, und das führt dazu, daß ich meinen Mitmenschen entspannter und gelassener begegne. Lächeln führt zu einer entspannten, milden und großzügigen Einstellung, bei der ich offener für die Kraft der liebe bin.
Schauen mit den Augen des Herzens
Lächeln wie auch die anderen genannten oder ungenannten Möglichkeiten des Perspektiven-Wechselns führen zu einer Blickweise, die wir als Liebe oder Schauen mit den Augen des Herzens bezeichnen. Und Liebe als eine Perspektive der Annahme und der wohlwollenden Aufmerksamkeit und inneren Verbundenheit erleichtert es wiederum, den anderen und sich selbst mit Dankbarkeit, Staunen, Humor und Lächeln zu begegnen. Und Liebe eröffnet den Weg zu unserem innersten Auge: zu einer Sichtweise, die über jeden Blickwinkel hinausgeht, die alle einschließt und die die Wirklichkeit erkennen läßt, wie sie ist. Diese Sichtweise wird als »Schau der Wahrheit« oder als »Erleuchtung« bezeichnet. Manchmal erahnen wir diese Schau, und wir sind erfüllt von unserer ursprünglichen
Sehnsucht nach der Wahrheit und ihrem Glück. Manchmal wird uns ein Augenblick dieser Schau zuteil, und läßt uns zurück mit einer Erfahrung wie dieser:
Ein Strahl dringt in mein Herz.
In seinem Licht sehe ich:
Das Leben ist ein Wunder,
und ich bin mitten drin.
Unser Lebenswerk
Michelangelo wurde einmal gefragt, wie es käme, daß er so wunderbare Werke schaffen könne.
“Es ist ganz einfach”, antwortete er. “Wenn ich einen Marmorblock betrachte, sehe ich die Skulptur darin. Ich muß nur noch das entfernen, was nicht dazugehört.”
Der Meister sagt:
“In jedem von uns steckt ein Werk, das darauf wartet, geschaffen zu werden. Es ist der Mittelpunkt unseres Lebens, und wenn wir uns auch noch so sehr betrügen, so wissen wir doch, wie wichtig es für unser Glücklichsein ist.
Meist ist dieses Kunstwerk unter jahrelangen Ängsten, Schuldgefühlen und Unentschlossenheit verschüttet.
Doch wenn wir beschließen, alles wegzuräumen, was nicht dazugehört, wenn wir nicht an unseren Fähigkeiten zweifeln, dann können wir die Aufgabe erfüllen, die uns bestimmt wurde.
Dies ist die einzig mögliche Art, ehrenhaft zu leben.
Paulo Coelho
“ Der Wanderer. Geschichten und Gedanken.” Diogenes Verlag, Zürich 1998
GÜNTER ALFRED FURTENBACHER
Günter A. Furtenbacher war als Seminarleiter (viele Jahre gemeinsam mit Rosemarie Schneider-Bassett), Coach und Therapeut tätig. Heute lebt er in Ruhestand mit seiner Partnerin nahe der Wachau (Niederösterreich) und übt sich in der Kunst der Gelassenheit.