obald wir um unser wahres Wesen wissen und es an den in uns schlummernden Eigenschaften erfahren, beginnen wir, im Gefühl des Einsseins mit allem Leben zu denken, zu fühlen und zu handeln. Wir verhalten uns dann anderen gegenüber in dem Bewußtsein: Der andere bin ich, denn auf Seelen ebene sind wir alle eins, Tropfen im Ozean des göttlichen Bewußtseins, mit den göttlichen Eigenschaften ausgestattet. Wir wandeln das Sprichwort “Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu” um in die Worte: “Was du willst, das man dir tu, das tue du dem anderen zuerst.” Im Gefühl des Einseins mit allem und allen ist uns das möglich. Wir wissen, was ich dem anderen tue, tue ich mir selbst.

Was hindert uns eigentlich daran, aus dem Gefühl des Einsseins zu leben und zu wirken?

Nun, es hindert uns das Gefühl, eine Sonderexistenz zu sein, die von allem anderen getrennt ist. Dieses Gefühl des Getrenntseins, auch Ego genannt, ist das wirkliche Hindernis. Wir sind zwar in der Form getrennt vom anderen, aber im Geiste, in unserem wahren Wesen, sind wir eins.

Solange wir annehmen, die Hindernisse lägen draußen, haben wir noch nicht erkannt und wollen nicht wahrhaben, daß wir unser Denken und Fühlen nach außen projizieren und damit der Welt um uns Schuld zuweisen und uns als Opfer fühlen. Dieses «Spiel» treiben wir so lange, bis uns voll bewußt wird, daß es die Reaktionsbilder in uns sind, die uns zu unbewußten Übertragungen auf das Äußere bewegen, und bis wir gelernt haben, mit diesen Reaktionsbildern bewußt umzugehen. Reaktionsbilder sind die im Unterbewußtsein gespeicherten Gemütseindrücke, an die die damals empfundenen Emotionen gebunden sind. Sie werden auch als Spurbilder oder Engramme bezeichnet, wobei ich den Begriff Reaktionsbilder am passendsten finde, weil er uns daran erinnert, daß es diese Bilder in uns sind, die uns reagieren lassen, wenn sie «berührt» werden.

In dem Moment, in dem diese Reaktionsbilder an die Oberfläche des Gemüts kommen, können sie uns bewußt werden und wir können sie betrachten, allmählich auflösen oder zumindest bewußt mit ihnen umgehen. Ein großartiges Lernfeld in Sachen “Reaktionsbilder” war meine frühere Tätigkeit als Redaklionssekretärin beim Fernsehen. Hier hatte ich viele Kollegen um mich herum und damit die wunderbare Gelegenheit, unser aller Verhalten zu studieren. Ich wußte genau, wie der eine oder andere üblicherweise reagiert. So ist mir klar geworden, daß jeder gemäß der Reaktionsbilder in sich auf eine äußere Situation reagiert. 30 verschiedene Kolleginnen und Kollegen reagierten oft auf 30 verschiedene Weisen. Warum ist das so, wenn es nur um eine Situation geht? Weil jeder seine Reaktionsbilder in die Situation und in jede Beziehung mit hineinbringt und gemäß seiner Reaktionsbilder auf diese Situation reagiert. Wenn wir uns dessen bewußt sind, ist es eine wunderbare Gelegenheit, die Gemütseindrücke zu bereinigen und uns dadurch von Fesseln zu befreien. Wenn wir uns der Zusammenhänge nicht bewußt sind, stolpern wir von einer Falle in die andere.

Einssein auch zulassen

Wir halten uns von so viel Fülle des Lebens fern und grenzen uns von so viel Liebe ab, wie wir das nicht zulassen, was wir unserer Persönlichkeit als entgegengesetzt empfinden. Wenn ich früher Gegensätzliches wahrnahm, habe ich mich erst einmal gesperrt, erst einmal Abstand von dem «anderen» genommen. Als ich anfing, das Gegensätzliche zuzulassen, durchlässig zu werden, habe ich gemerkt, wie das Gegensätzliche mich bereichert. Immer dann, wenn uns ein Mensch begegnet, von dem wir meinen, er sei so anders als wir und so gegensätzlich, dann sollten wir ihn erst recht in unser Leben einladen. Und wenn wir ohne Bewertung wahrnehmen, den andern sein lassen und unsere Aufmerksamkeit auf das Schöne in ihm richten, können wir es wahrnehmen. Aber wenn wir, weil er gegensätzlich ist, meinen, wir müßten von ihm zurücktreten, versäumen wir, etwas Wunderbares zu entdecken. Ich habe festgestellt, wann immer etwas Gegensätzliches in mein Leben kam und ich nur einfach ohne jegliches Bewerten Wahrnehmende blieb, entfaltete sich in dem anderen, der so gegensätzlich zu sein schien, immer mehr Schönes, dem ich mich öffnen konnte. Jetzt wurde ich durchlässig und erkannte, daß das Gegensätzliche mir nichts nimmt, sondern neue Bewußtseinsbereiche in mir erschließt und mich beschenkt.

Ins Gefühl des Einsseins kommen wir, je mehr wir Gegensätzliches zulassen, denn alles ist eins, also gehört das, was wir als das Andere empfinden, mit in das Einssein. Das eine Leben bringt sich durch uns alle zum Ausdruck. Wir, jeder von uns, ist einzigartiger Ausdruck des einen Lebens. So wenn ich sage: “Ich habe eine gute Beziehung mit Gott, aber den will ich nicht und der ist ja noch nicht in seinem wahren Wesen verankert, und jene weiß noch nicht, wo es lang geht”, dann nehme ich mich in dem Maße von der Alleinheit zurück, in dem ich das Andere ablehne oder mich von ihm zurücknehme. So viel kann ich dann vom Einssein nicht empfinden, und so viel schneide ich mich vom Strom der Liebe ab. Das heißt: ich mache mich nicht auf, den anderen in mich hinein zunehmen, durchlässig zu sein. Deshalb staut der Strom der Liebe in mir, und dieser Stau ist der Stau der Lebenskraft, den wir bis in unseren Körper spüren. Die Organe und der Körper als Ganzes müssen austragen, was wir im Gemüt ablehnen, wogegen wir Widerstand empfinden.

Wenn jemand um uns ist, der uns ab und an mal piekst, und dieses oder jenes gefällt ihm nicht, dann sagt uns dieser Mensch eigentlich: ich brauche Liebe. Das ist alles. Wir sollten nicht persönlich nehmen, was wir als seine Sticheleien empfinden. Denn er hat es mit seinen Reaktionsbildern zu tun. Jeder geht immer mit sich selbst um. Im Umgang mit dem andern gehe ich mit mir selbst um. Wenn ich die Liebe im andern nicht wahrnehmen kann und wenn ich sein Bemühen und sein Ringen nur negativ sehe, sind meine Augen nicht rein. Dann summerieren sich die vielen Kleinigkeiten, die mich am andern stören, zu einem Berg, weil meine Aufmerksamkeit immer auf das ausgerichtet ist, was mich am anderen stört. Die Meister sagen, unsere Augen müssen so rein werden, damit wir die Reinheit im andern sehen können. Wenn wir meinen, im andern sei so viel im Argen und wir hätten schon die Liebe und die Güte und alles Wunderbare in uns entfaltet, und wenn wir denken, daß uns dann der Umgang mit dem andern nicht mehr gemäß sei, dann sind wir gerade aufgerufen, das, was wir als so wunderbar in uns empfinden, zum andern hinzutragen und in ihm zu entfachen.

Geistige Erweckung

Geistige Erweckung geschieht, indem Gott in einem teilweise oder voll erwachten Menschen sich selbst im anderen, wo er noch schläft, erweckt. Also wenn wir denken, wir seien teilweise oder gar voll erwacht, dann dürfen wir oder das Leben in uns oder Gott in uns den andern erwecken. Das können wir aber nicht, wenn wir ihn negativ anschauen. Das können wir nur, wenn wir die Aufmerksamkeit auf sein Innerstes ausrichten. Warum? Worauf wir die Aufmerksamkeit ausrichten, das rufen wir hervor. Das ziehen wir an und das zieht uns zu ihm. Und so ist es mit all unseren göttlichen Eigenschaften. Wenn wir meinen, wir haben wahre Liebe, bedingungslose Liebe in uns entfaltet, und wir würden gerne, daß andere auch in die Liebe kommen, dann sollten wir sie nicht kritisieren, daß sie angeblich nicht in der Liebe sind, sondern es als freudige Aufgabe sehen, selbst lieb zu sein und damit die Liebe im andern zu wecken.

Wenn wir miteinander in Beziehung treten, heißt dies normalerweise: es tritt ein Reaktionsbild mit dem andern Reaktionsbild in Beziehung. Wir meinen, wir würden frei miteinander in Beziehung treten. Erst wenn uns wirklich gelingt, im Bewußtsein der Gegenwart Gottes, im Bewußtsein der Gegenwart des Guten in mir und im andern einander zu begegnen, sind wir frei in unseren Beziehungen.

Um das Bewußtsein der Gegenwart des Guten aufrechtzuerhalten, sollten wir öfters in die Stille gehen und uns Zeit lassen zur Reflexion und zur Tagesrückschau. Dadurch gewinnen wir Abstand von unseren Reaktionsbildern und können uns aus der Identifikation mit ihnen befreien. Außerdem kann die Kraft der Stille uns erneuern und umwandeln. Wieviel Zeit sind wir bereit, täglich dafür frei zu machen und mit Gott und uns allein zu sein? Wieviel Zeit geben wir uns, um in das Gefühl des Einsseins zu gelangen, um dann aus diesem Gefühl dem andern zu begegnen?

Und, wenn wir in die Stille gehen, dann wird uns der Hüter der Schwelle begegnen. Was heißt das? Nun, wir nehmen die Gegenwart des Geistes wahr. Das nennen wir auch das Seelengewahrsein oder den Meister in uns. Dieser Meister in uns beginnt, uns zu belehren. Wir erkennen die richtige Belehrung daran, daß uns diese Stimme in uns immer zum Wohle aller lenkt, zu Gerechtigkeit und wahrer, bedingungsloser Liebe.

Warum Stille wichtig ist

Diese Stimme meldet sich besonders dann, wenn es still in uns und um uns herum wird. Zum Beispiel während einer Tagesrückschau, in stiller Versenkung oder auch in der Meditation. Wir erkennen dann deutlich, was wir den Tag über gesprochen und wie wir uns verhalten haben. Dann können wir darüber reflektieren, ob wir aus dem Gefühl des Getrenntseins oder im Gefühl des Einsseins gedacht, gefühlt und gehandelt haben. Manchmal wird uns dann siedend heiß – vielleicht auch mal kalt. Wir spüren erneut unseren Energiekörper und durchschauen unser Gemüt.

Dieser Hüter der Schwelle ist in jedem von uns. Niemand kann ihm entgehen. Obwohl er uns anfangs unangenehm ist – denn wer wird schon gerne an seine Wunden und Irrtümer erinnert – bringt er uns in die Gegenwart des Guten. Er hütet das Reich Gottes in uns, und alle Gaben, die wir zu empfangen wünschen, werden uns zuteil, wenn wir uns von ihm führen lassen. Er erinnert uns daran, absolut wahrhaftig zu sein, damit wir würdig sind, den Schatz im eigenen Innern zu empfangen. Wolfgang Meinert sprach über Wahrhaftigkeit und wie ihn seine Entscheidung, absolut ehrlich zu sein, hier und da erinnerte, es auch wirklich zu sein. Das, was uns erinnert, ist das Seelengewahrsein, der Hüter der Schwelle. Es ist uns nicht immer angenehm, wenn er sich meldet. Viele fliehen vor dieser inneren Einsicht, weil sie ihre Irrtümer noch immer nicht wahrhaben wollen. Einmal zu einem gewissen Grad erwacht, spricht diese Wahrheit und sagt: “Das bist du! So hast du gedacht, gefühlt, gehandelt. Kehre um.” Doch das menschlich bedingte Gemüt – falls Ihr auch noch eines habt – sagt dann: “Sei doch ruhig. Es hat niemand was gesehen, niemand was gehört, keiner weiß etwas davon.” Dann gehen wir in die Stille und möchten meditieren. Wir erhoffen uns Entspannung und erwarten etwas Schönes. Doch was kommt? Der Hüter der Schwelle – und er spricht erneut zu uns. Da hilft kein Verstellen, weder vor uns noch vor anderen. Wenn wir aufwachen, gibt es kein Zurück. Wolltet ihr euch schon einmal umdrehen und wieder rückwärts laufen? Ihr auch. Gott sei dank, ich bin nicht alleine. Doch es gibt kein Zurück mehr, nur noch ein Nachvorn.

So ist es Zeit, Ordnung zu machen, in allen Bereichen und in allen Beziehungen. Oftmals höre ich Seminarteilnehmer sagen, diesmal noch, Rosemarie, nur noch das eine Mal, dann fange ich an, ehrlich zu sein. Es wird ja noch einmal gutgehen. Und wer weiß, ob das mit dem Leben nach dem Tod stimmt. Ob wir wirklich Seele sind, Teil ewigen Lebens, oder ob nicht doch alles vorbei ist nach dem physischen Tod. Wer weiß das denn eigentlich wirklich. Wißt ihr, wer meditiert, hat hier und jetzt dank dem Hüter der Schwelle die Gelegenheit, schon ein bißchen Ordnung zu machen. Die anderen, die warten, bis sie hinüber gehen, erleben den Hüter der Schwelle an der Schwelle. Dann läuft ihr Film ab, mit allem gespeicherten Emotionen und sie gehen durch die Hölle. Das ist der Zustand, der wahrscheinlich in unserer Kirche mit Hölle bezeichnet wird. Wir können ihn schrittweise jetzt schon abbauen. Dann wird es uns mal heiß, ab und an mal, nicht alles auf einmal. Dann erleben wir die Hölle schrittweise. Dann haben wir aber auch schon ein bißchen Erleichterung und auch schon ein bißchen himmlischen Zustand. Wofür entscheiden wir uns?

Es ist tatsächlich so, wenn wir meditieren, verbrennen einige Gemütseindrücke im Feuer der Meditation, wie das viele Yogameister sagen. Dann fällt so manches von uns ab. Wenn wir richtig meditiert haben, ist uns anschließend leichter. Meditieren wir nicht richtig, gelingt es uns nicht, das Gemüt zu transzendieren. Mit anderen Worten, wir können uns aus den Identifikationen mit Körper und Gemüt nicht lösen und gelangen deshalb in unserer Wahrnehmung nicht in das reine Sein. Wer vor sich hinträumt, rutscht leicht ins Unterbewußtsein und fühlt sich anschließend nicht gut. Deshalb ist es so wichtig, auf einen Punkt gesammelt zu meditieren. Weil diese Sammlung auf einen Punkt das Tor öffnet, um durch das Gemüt hindurch in den reinen Seinszustand zu gelangen. Auf einen Punkt gesammelt zu sein ist das Geheimnis der richtigen Meditation. Es ist egal, welchen Sammelpunkt wir wählen. Ob wir ins dritte Auge schauen, den Atem beobachten, mit einem Mantra üben – jeder so, wie er sich wohlfühlt. Ich übe mit dem Atem. Und weil ich damit Erfolg habe, gebe ich diese Methode weiter. Ein anderer Lehrer wird die Methode weitergeben, mit der er Erfolg gehabt hat. Die gewählte Methode, mit der Du auf einen Punkt gesammelt bleiben kannst, ist die richtige für Dich. Dann öffnet sich das Tor nach innen und wir fühlen das Himmelreich. Die Stadien, die wir fühlen, bis wir in dem Seinszustand sind, hat Roy Eugene Davis in seinem Buch “Wahrheitsstudien” beschrieben.

Wonne und Glückseligkeit

Bevor wir in den Seinzustand gelangen, erleben wir große Wonne und Glückseligkeit. In diesen Stadien fühlen wir unsere wahren Eigenschaften. Da geht plötzlich der Quell der Freude in uns auf oder der Quell wahrer, bedingungsloser Liebe. Ein andermal fühlen wir stärker die Eigenschaft der Ruhe und des Friedens. Jetzt können wir lernen, die sich entfaltenden Eigenschaften bis in den Körper einströmen zu lassen und danach über unser Denken, Fühlen und Handeln zum Ausdruck zu bringen. Das ist unsere wahre Aufgabe. So errichten wir das Himmelreich auf Erden, an dem Platz, an dem wir stehen. Wir bringen ein bißchen mehr Ruhe zum Arbeitsplatz. Ein bißchen mehr Verständnis in die Familie. Und anstatt zu kritisieren, andere hätten keine Liebe, sind wir aufgerufen, Liebe zu ihnen hinzutragen. Mit unserem Licht und unserer wahren Liebe zünden wir das Licht und die wahre Liebe im anderen an.

Weg nach innen

Wer den Weg nach innen fand,

Wer in glühndem Sichversenken

Je der Weisheit Kern geahnt,

Daß sein Sinn sich Gott und Welt

Nur als Bild und Gleichnis wähle:

Ihm wird jedes Tun und Denken

Zwiegespräch mit seiner eignen Seele,

Welche Welt und Gott enthält.

Hermann Hesse

Rosemarie Schneider-Bassett

Rosemarie Schneider-Bassett

Rosemarie Schneider-Bassett war über 25 Jahre lang Autorin mit vielen hundert Veröffentlichungen und Audio-Kursen sowie Seminarleiterin in mehreren europäischen Ländern sowie in den USA.