Kontemplation

Unser wahres Wesen liegt ganz tief in uns. Was wir als Unruhe und Schwäche empfinden, ist in Wirklichkeit nur Kräuselung der Oberfläche. In der Tiefe ist Ruhe, Gewißheit und Freiheit. Darum sollten wir täglich in der Stille in den tiefen Grund unserer Seele hinabtauchen und des wahren Lebens in uns innewerden. Dann werden auch unsere Worte und Taten Offenbarungen der Wahrheit sein.
Tagore

Kontemplation führt zur bewußten Identifikation (Einswerdung) Kontemplieren heißt, wir kreisen mit unserer Aufmerksamkeit ohne Bewertung um einen zu erforschenden Begriff (z.B. Liebe), bis sich uns dieser Begriff in seiner wahren Bedeutung vollkommen mitteilt. Während wir über die Bedeutung des Begriffes kontemplieren, bei ihm verweilen, erfühlen wir auch seine Eigenschaft und damit seine Schwingung. Durch die Sammlung auf einen Begriff kommt das Gemüt zur Ruhe, und die Reinheit und Wahrheit aus der Quelle des Lebens taucht aus dem eigenen Innern, aus dem Seinsgrund des Kontemplierenden hervor. Durch diese innige Betrachtung, in der wir uns versenken, verschmelzen wir schließlich mit der Eigenschaft des Begriffes, den wir erforschen, und gehen ganz darin auf- wir werden eins mit dieser Eigenschaft, wir schwingen uns sozusagen mit unserem Gemüt auf sie ein, wodurch eine bewußte Verschmelzung, eine bewußte Identifikation des Gemüts mit dieser Eigenschaft stattfindet.

In Stufen vollzieht sich folgendes: zunächst sammeln wir uns auf einen Begriff. Durch das Kreisen unserer Aufmerksamkeit um die Bedeutung dieses Begriffes (es könnte sich ebenso um einen Gegenstand, eine Sache, ein Bild oder um eine Aussage handeln) Hießt unsere Aufmerksamkeit ununterbrochen auf einen Punkt, bis wir ganz darin aufgehen. Was wir auch immer zum Gegenstand unserer Kontemplation erwählen, werden wir unserer Bewußtseinsstufe entsprechend und gemäß dem Grad unseres Gewahrseins erkennen und verstehen. Zum Beispiel: »Ein ganz im Wahrheitsbewußtsein lebender Mensch hat die Macht, sein gesprochenes Wort direkt Wirklichkeit werden zu lassen.« Durch Kontemplation über eine solche Aussage erlangen wir Wissen aus der Tiefe unseres eigenen Seins. Wir kommen zu klarem, überbewußtem Gewahrsein.

Natürlich können wir immer nur über eine Sache, eine Aussage oder einen Begriff zu einer Zeit kontemplieren. Und wir sollten so lange bei dem Gegenstand unserer Kontemplation verweilen, bis wir aus der Tiefe unseres Seins Einsichten erlangen und letztlich mit der Eigenschaft dessen, was wir betrachten, verschmelzen.

Seelengewahrsein oder Wahrnehmung durch die Brille des Gemüts

Es ist die normale Gemütstätigkeit, die in uns die Begriffe von Zeit, Raum und Umständen entstehen läßt. Das spirituelle Gewahrsein führt uns darüber hinaus, und wir erkennen das Wirkliche hinter dem Vergänglichen. Auf diese Weise finden wir Befreiung aus unbewußten Identifikationen. »Ihr sollt die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird Euch frei machen.«

Während der Kontemplation über Begriffe der Wahrheit füllt sich unser Gemüt mit aufbauenden und lebensbejahenden Empfindungen und wandelt sich um. Der Mensch wird zu dem, womit er sich in seinem Bewußtsein beschäftigt, wobei er im Innern verweilt. Es entsteht ein Magnetismus. Da der Mensch Sender und Empfänger auf der gleichen Schwingungsfrequenz ist, zieht er das an, worauf er seine Aufmerksamkeit richtet, und wird ebenso von der gleichen Art angezogen.

Durch Kontemplation wird die Fähigkeit der Intuition erweckt, nämlich die Fähigkeit der Seele, von der Quelle des Lebens direkt wahrzunehmen. Intuition führt zu einem Gewahrsein, in dem wir einfach wissen. Im Seelengewahrsein nimmt der Mensch wahr, was wirklich ist. Das bedingte Gemüt mit all seinen Unterstellungen, Ansichten, Meinungen und Standpunkten tritt in einem solchen Augenblick intuitiven Erkennens zurück.

Die beiden ersten Schritte der spirituellen Behandlung: Anerkennen und Vereinigen

Bei dem ersten Schritt (Anerkennen) einer spirituellen Behandlung anerkennen wir das Göttliche, die Allgegenwart des Guten, den einen Geist, die eine Kraft, die eine allumfassende Intelligenz, das eine Leben, die eine Macht. Was ich anerkenne, rufe ich in meinem Gewahrsein und folglich in meinem Erleben hervor.

Vollziehe ich diesen ersten Schritt kontemplativ, führt mich die Kontemplation ganz von selbst in den zweiten Schritt (Vereinigen), nämlich in das Gefühl des Einsseins mit allem Leben. Zum Beispiel: Kontempliere ich über die Aussage »es gibt nur ein Leben«, dann könnte ich zu dem Gewahrsein gelangen, daß dieses Leben allumfassend ist und somit auch mein Leben ist. Wenn sich dieses Sein, das wir Leben nennen, seiner Selbst bewußt wird, bringt es sich selbst und das, worüber es kontempliert, hervor. Oder ich kontempliere über die Allgegenwart des Guten: Da kontemplieren heißt, so lange bei dem Gegenstand meiner Betrachtung verweilen, bis ich mit seiner Eigenschaft verschmelze, gelange ich, wenn ich bis zu Ende kontempliere, zum Gewahrsein der Allgegenwart des Guten in mir, durch mich, um mich herum und für mich wirkend.

Die Kontemplation, die mich zum Gefühl des Einsseins mit allem bringt, worüber ich kontempliere, führt mich auf natürliche Weise in die vertrauensvolle Hingabe auf die eine Macht, die eine Gegenwart und die eine Intelligenz, was für die richtige Anwendung des dritten Schrittes erforderlich ist.

Der dritte Schritt einer spirituellen Behandlung: Vergegenwärtigen

Bei diesem Schritt wenden wir uns dem bestimmten Zweck unserer Behandlung zu und bejahen ihn als verwirklicht. Angenommen, wir möchten unsere Beziehung zu unseren Eltern harmonischer erfahren und sprechen dafür das Wort: »Ich verstehe meine Eltern und sie verstehen mich. Unsere Beziehung ist harmonisch.« Haben wir die ersten beiden Schritte kontemplativ vollzogen und die Wahrheit über das wahre allumfassende Leben anerkannt, können wir den dritten Schritt leichter vollziehen, nämlich, die Harmonie mit den Eltern in uns vergegenwärtigen. Wir haben den dritten Schritt dann vollzogen, wenn wir das gewünschte Ergebnis bereits erfühlen können.

Die schöpferische Kraft unserer Gedanken und des gesprochenen Wortes findet durch das Vergegenwärtigen Anwendung für bestimmte Zwecke, denn wobei ich verweile, das vollzieht sich in meinem Gemüt und dadurch bringe ich es hervor.

Praktische Übung

Du kannst Dir die verschiedenen Kontemplations-Texte von Ernest Holmes aus diesem Büchlein vornehmen und lesen. Schon beim Lesen wirst Du empfinden, wie sich Dein Bewußtsein auf diese jeweilige Schwingungsebene der Kontemplation über Frieden oder Liebe erhebt. Diese Bewußtseinserhebung kannst Du noch unterstützen, indem Du Dir die Texte auf eine Kassette sprichst und dann anhörst. Laß Dir für diesen Fall sehr viel Zeit zwischen den Sätzen, damit Du die Bedeutung der Worte erfühlen kannst. Danach verweile bei allem, was zu Frieden oder Liebe aus Deinem eigenen Seinsgrunde emportaucht. Da Dein Gemüt von der Eigenschaft erfüllt wird, über die Du kontemplierst, kommst Du dadurch in das Gefühl von Frieden oder Liebe. Ganz eingetaucht in diesen Eigenschaften Deines wahren Wesens kannst Du dann ein Ergebnis in Dir vergegenwärtigen, das Du zu erfahren wünschst.

Den Geist vorausschicken

Durch Kontemplation über den erwünschten Zustand lernen wir, den Geist vorauszuschicken. Mit anderen Worten: »Ich bin Geist vom einen Geist, und ich selbst gehe in bildhafter Vorstellung voraus und erfühle, wie es wäre, wenn sich der erwünschte Zustand schon verwirklicht hätte.« Durch Kontemplation setzen wir die schöpferische Vorstellungskraft ein, wodurch das Gesetz von Ursache und Wirkung in Funktion tritt. Was sich in meinem Gemüt und Bewußtsein vollzieht, ist sozusagen in das unsichtbare allumfassende universale Gemüt hinein-ge-setzt. Wir sprechen auch in diesem Zusammenhang vom Einpflanzen oder Einbilden.

Durch Selbst-Kontemplation aus der Gebundenheit in die Freiheit

Wer das Gesetz von Ursache und Wirkung versteht, wird sich also hüten, bei Sorgen zu verweilen, weil er weiß, daß er durch Verweilen, durch beständiges Fließen der Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Sache, diese hervor ruft oder verstärkt. Deshalb üben wir uns täglich, unsere Aufmerksamkeit umzulenken: von sorgenvollen zu lebensbejahenden Gedanken, von Problemen zu Lösungen, von Begrenzungen zur Freiheit, von Mangel zur Fülle.

Diese Aufgabe kann niemand für uns erfüllen. Es ist die Aufgabe einer jeden Seele, das eigene Gemüt so auszubilden, daß sie sich frei zum Ausdruck bringen kann. Das nennen wir Selbst-Verwirklichung, die Eigenschaften unseres wahren Wesens im Da-Sein zu verwirklichen, zum Ausdruck zu bringen, zu leben, zu sein.

Was wir den Tag über denken und fühlen ist auch Vergegenwärtigen. Der Geist bewegt sich in sich selbst, das ist Selbst-Kontemplation. Selbst-Kontemplation erschafft. Kontemplieren heißt, mit der Aufmerksamkeit um eine Sache kreisen. Worum kreist unsere Aufmerksamkeit während des Tages?

Um zu Lösungen zu gelangen, müssen wir uns im Bewußtsein über Probleme erheben. Das Maß unseres Vertrauens in die Gegenwart des Guten muß demnach größer sein, als das Maß dessen, was wir als ungut erfahren. Wenn unser Maß sozusagen voll ist, tun wir gut daran, es gut zu nennen, zu segnen und loszulassen. Wenn wir eine vermeintlich ungute Situation gut nennen und uns dann fragen, was ist gut daran, lenken wir die Aufmerksamkeit automatisch auf die Wahrnehmung von etwas, das gut daran ist. Jetzt haben wir die Aufmerksamkeit vom vermeintlich Unguten gelöst und können sie erheben.

Gute und erwünschte Ergebnisse erreichen wir, wenn wir nicht nur in einigen stillen Minuten Großartiges kontemplieren, sondern auch den Rest des Tages in lebensbejahender Gemütsverfassung verbringen, indem wir unser Denken und Fühlen in dieser Weise ergebnisorientiert ausrichten. Das ist Entscheidungssache.

wird fortgesetzt …

Rosemarie Schneider-Bassett

Rosemarie Schneider-Bassett

Rosemarie Schneider-Bassett war über 25 Jahre lang Autorin mit vielen hundert Veröffentlichungen und Audio-Kursen sowie Seminarleiterin in mehreren europäischen Ländern sowie in den USA.