Wir alle sind menschliche Wesen, und wir alle haben Fehler begangen. Wir alle tragen eine unbewußte Last von Schuld mit uns und benötigen das Gefühl, daß uns vergeben wird. Eine der wichtigsten Erkenntnisse in Science of Mind ist unser Bedürfnis zu fühlen, daß wir in Einklang sind mit Gott und mit jedem anderen. Wir wissen, daß ein fortwährender Zustand der Zurückweisung viele Arten von physischen Krankheiten hervorrufen kann. Diese sind keine eingebildeten Krankheiten. Es sind Krankheiten, die die Einbildungskraft (unsere Imagination) durch psychosomatische Beziehung im Körper verursacht. Z. B. kann ein fortwährender Zustand der Zurückweisung anderer auf schlimme Weise das eigene Verdauungssystem angreifen. Oder er kann andere Formen physischer Spannungszustände hervorrufen. Er kann unsere ganze Lebensweise einengen und den spontanen Fluß von Begeisterung hemmen, ohne den es wenig Freude in unserem Leben gibt.
Ein großer Teil unserer Unfähigkeit, anderen zu vergeben, entstammt einem tiefsitzenden Minderwertigkeitsgefühl. Die Ursache unserer feindseligen Einstellung gegenüber anderen ist oftmals ein inneres Bedürfnis, sich von dem unbewußten Gefühl der Selbstverurteilung zu befreien, ein Gefühl, als hätten wir eine solche Last von Schuld in uns, die wir nicht tragen können. Und so projizieren wir dieses innere Gefühl von Schuld auf andere, um selbst ein Gefühl von Befreiung zu erlangen.
Dies bringt uns zu einer der grundlegenden Aussagen Jesu zurück: »Vergib, und Dir wird vergeben.« Selbstverständlich wußte Jesus, daß wir mit Gott keinen Handel treiben. Doch je aufmerksamer wir seine Vorgehensweise untersuchen, um so klarer werden wir erkennen, daß er oftmals emotionale Blockierungen beseitigte, bevor er Menschen heilte.
Einmal vergab er einem gelähmten Mann. sehr zum Entsetzen einiger, die um ihn waren und ihm gesagt hatten, daß er nicht das Recht hätte, anderen zu vergeben. Jesu einzige Antwort war die Frage an sie, ob es nach ihrer Meinung leichter sei, dem Mann zu vergeben oder ihm zu sagen: »Stehe auf, nimm Dein Bett und wandle.« Um ihnen aber zu zeigen, daß er die Macht habe, anderen ihre Sünden zu vergeben, sagte er zu dem Mann: »Stehe auf, nimm Dein Bett und gehe heim!« (Mark. 2, 11)
Es gibt eine bestimmte Spannung, die den emotionalen Zustand der Verurteilung begleitet. Deshalb vergab Jesus dem Mann und beseitigte somit diese Spannung. Aus der Sicht unseres heutigen Wissens praktizierte Jesus eine vollkommene spirituelle Behandlung. Er hatte die geistige Fähigkeit, in das Innere der Menschen zu blicken und zu wissen, wie die Menschen denken und warum sie so denken. Selbstverständlich wußte er auch, daß sich etwas auf den physischen Körper auswirkt, das den Fluß des Lebens unterbricht und das von Gott gegebene Recht verwehrt, glücklich und mit Vertrauen in das Universum zu leben.
Wahrscheinlich wußte Jesus mehr über die spirituelle Psychosomatik als jeder andere, der jemals gelebt hat. Er wußte auch das, was die meisten von uns noch entdecken müssen: Wir können nicht geben, was wir nicht haben. Und sicherlich wußte er auch, daß wir alle das Bedürfnis haben, uns mit Gott eins zu fühlen.
Niemand kann sich mit Gott eins fühlen, wer irgend jemand oder irgend etwas haßt. Erinnere Dich in diesem Zusammenhang an die Zeile im Vaterunser: »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.« Jesus wußte, daß uns nur vergeben werden kann, wenn wir anderen vergeben. Auf den ersten Blick mag es vielleicht scheinen, daß wir mit Gott Handel treiben. Doch dies ist nicht der Fall. Gott ist Leben und Liebe. Und wie kann Leben und Liebe durch uns fließen, wenn wir sie an irgendeinem Punkt unterbrechen?
Jesu Aussage: »Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern« bedeutet nicht, daß wir mit dem Allmächtigen Handel treiben. Der wahre Grund für diese Aussage ist, daß wir nicht das Gefühl haben können, daß uns vergeben ist, während wir gleichzeitig andere verurteilen. Wenn es nichts in uns gibt, was andere verurteilt, dann bleibt auch keine Verurteilung übrig, weder gegen uns selbst noch gegen andere. Nur dann kann der Strom des Lebens völlig ungehindert fließen, jener Strom, der so frei zu allen und durch alle fließt, wenn wir es zulassen.
Jesus sagte auch: »Gib und Dir wird gegeben werden.« Das Leben hat die Absicht und den Wunsch, uns alles Gute zu geben. Doch wenn der Kreislauf des Lebens an irgendeinem Punkt unterbrochen ist, dann ist er an jedem anderen Punkt gehemmt. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Blutkreislauf in unserem physischen Körper. Wenn dieser Kreislauf an irgendeinem Punkt unseres Körpers unterbrochen wird, bewirkt dies eine Hemmung an anderen Stellen. Es setzt ein Stillstand ein, dessen Folge Infektion sein kann. Wir trinken niemals aus lange stillstehenden Gewässern, denn sie sind unrein. Wir suchen immer den freifließenden Strom des Wassers, der sich selbst durch sein Fließen reinigt.
Unser Gemüt ist sozusagen ein mentaler See, durch den Gedanken des Guten fließen, Gedanken der Liebe und Großzügigkeit, des guten Willens und Friedens, der Kraft und Ausgeglichenheit. Wo immer es eine Hemmung oder einen Stillstand in unserem mentalen Leben gibt, werden wir als Grund hierfür entdecken, daß wir den freien Fluß dieser guten Gedanken unterbrochen haben. Alles bewegt sich im Kreise. Dies ist der Lauf des Lebens. Wenn wir uns daher weigern zu geben, weigern wir uns auch anzunehmen. Nichts ist von größerer Wichtigkeit, als zu lernen, wie wir uns selbst und anderen vergeben. Diese Gesetzmäßigkeit brachte Jesus in einem Höchstmaß zum Ausdruck, als er jenem Mann vergab, der neben ihm am Kreuze hing. Meiner Meinung nach war diese Tat der Vergebung eine der größten Lektionen des Kreuzes.
Es gibt eine andere Tat in der Geschichte, die eine gleichermaßen entwickelte Haltung wie die von Jesus zeigte. Als Mahatma Gandhi den tödlichen Schuß seines Attentäters empfing, war seine letzte Handlung das Zeichen der Vergebung mit seinen Händen. Jesus und Gandhi waren zwei der größten geistigen Genies unserer Geschichte. Jeder wußte um das Bedürfnis des menschlichen Gemüts, die Last der Verurteilung loszulassen, und jeder zeigte der Menschheit bei seinem Tode, daß wir auch von Gott nur das annehmen können, was wir selbst zuvor gegeben haben.
Die große Lektion, die wir aus diesen Aussagen lernen können, ist: Es ist für uns unmöglich, die Erleichterung und Erlösung von Selbstverurteilung zu fühlen, solange wir noch andere richten.
Laßt uns unser neues Leben mit den folgenden Bejahungen beginnen:
Gott ist alles, was ist. Gott ist Liebe. Liebe ist die antreibende Kraft des ganzen Universums. Gott ist in allem, Gott ist in jedem.
In dem Wissen, daß Liebe die große bewegende Kraft des Lebens und Gott im Zentrum von allem ist, begegne ich heute Gott in jedem und sehe den Ausdruck seines Lebens in allem.
Falls es irgendeine Verurteilung oder Feindseligkeit in mir gibt, lasse ich sie frohen Herzens los. Ich lasse sie los, in dem ich m1ch zu der stillen Gegenwart in mir wende, die alles gibt und nichts vorenthält. Ich trete in die Harmonie ewigen Friedens ein. Ich trete ein in die Freude der Gewißheit, daß ich nun im Reiche Gottes bin, von dem kein Mensch ausgeschlossen ist. Meine Vergangenheit ist für immer vorbei, meine Zukunft liegt im endlosen reinen Licht vor mir. Und aus dem Unsichtbaren kommen jetzt zu mir folgende Worte: »Heute noch wirst Du mit mir im Paradiese sein.«
Ernest Holmes
Auszug aus Ernest Holmes: »Science of Mind«
Lehrgang in 48 Lektionen, Lektion 41.
Verlag CSA