Wahrscheinlich wurde kein Wort in unserer Sprache so mißverstanden und so mißbraucht wie das Wort Liebe. Dieses Wort wird in so vielfältiger Weise verwendet, daß es nahezu unmöglich scheint, ihm eine klare und eindeutige Bedeutung zu geben. Wir sagen zum Beispiel: “Wir lieben unsere Familie, unsere Kinder, lieben unsere Heimat, lieben ein Gemälde oder einen Film, lieben eine Speise, eine Blume oder ein Lied.” Dabei wollen wir in den meisten Fällen ausdrücken, daß uns dieses oder jenes gut gefallt oder unsere Sympathie hat. Was hat dies nun mit der Liebe zu tun, die als die stärkste Kraft der Welt bezeichnet wird?

Um etwas mehr Klarheit in die Bedeutung von Liebe zu bringen, möchte ich von einer Idee ausgehen, die von dem Anthropologen Ashley Montagnu stammt. Er sieht das Wesen der Liebe am deutlichsten durch den Begriff interdependent ausgedrückt, was im deutschen »eng zusammenhängend, ineinandergreifend, voneinander abhängig, aufeinander angewiesen« bedeutet. Diese Eigenschaft von Liebe finden wir auf jeder Ebene des Lebens. Denn von der anorganischen und organischen Ebene wissen wir, daß ein Atom von einem anderen abhängig ist ebenso wie eine Zelle von einer anderen und ein Organ von einem anderen. In dieser Abhängigkeit ist immer das Element der Gegenseitigkeit enthalten.

Es findet ein Geben und Empfangen statt. Das heißt, Liebe ist keine Einbandstraße, sondern eine harmonische Verbindung der Teile. Auf schöne Weise wird diese Idee

veranschaulicht durch die Geschichte von einem Mann, der eine Reise durch den Himmel und durch die Hölle macht. In der Hölle sieht er die Menschen, wie sie an langen Tischen voller köstlicher Speisen sitzen und doch hungrig und ausgemergelt sind. An ihren Annen sind lange Gabeln angebunden, mit denen sie vergeblich versuchen, die Speisen in ihren eigenen Mund zu bringen.

Als der Mann den Himmel besucht, findet er auch dort die Menschen an langen Tischen mit köstlichen Speisen sitzen und mjt langen Gabeln an ihren Armen. Doch im Himmel sind alle Menschen gut genährt und glücklich, denn sie haben sich gegenseitig mit den langen Gabeln genährt.

Wenn uns unser eigenes Wohlbefinden am Herzen liegt, können wir es uns nicht leisten, unsere Liebe nicht zu allem und Jedem fließen zu lassen.

Liebe können wir als die grundlegende Wirklichkeit des Lebens betrachten. jene Wirklichkeit, die wir Gott nennen. Gott ist Liebe und Gott ist kreative Intelligenz. Gott benötigt seine Schöpfung, um sich zum Ausdruck zu bringen. Und dieser Ausdruck benötigt Gott für seine Existenz. Gott kann niemals aufhören, zu lieben oder zu erschaffen. Und auch die Schöpfung kann nicht aufhören, zu lieben und Gott zum Ausdruck zu bringen, ohne daß sie dadurch immer weniger die Quelle ihrer Existenz erfahren würde, was allmählich zu ihrem Ende führen würde.

Der Mensch ist das einzig geschaffene Wesen, das sich bewußt von der Liebe Gottes abschneiden kann, d.h. er kann es ablehnen, sie anzunehmen. Wenn dies geschieht, sind die Folgen oft katastrophal. Gottes Liebe für uns ist immer da, ob wir sie annehmen oder nicht.

LIEBE UND GESUNDHEIT

Über die theoretischen Aspekte der Liebe wurde viel geschrieben und philosophiert. Doch welchen Stellenwert hat sie im AI1tag? Ist sie praktisch anwendbar? Allen von uns liegt die eigene Gesundheit sehr am Herzen. Was bedeutet oder bewirkt Liebe für unsere Gesundheit? Sie hat mehr damit zu tun, als die meisten zugeben wollen. Wenn uns füreinander das Gefühl der Gegenseitigkeit und der Liebe verloren geht, wird es meist durch Haß ersetzt. Liebe zieht an, Haß stößt ab. Liebe zieht Gutes an, Haß stößt das Gute ab. Liebe zieht Gesundheit an, Haß hält sie fern. Haß und ähnliche Emotionen bewirken eine Störung oder ein Ungleichgewicht im Körper. Es entsteht ein Mangel an Gegenseitigkeit, an harmonischem Zusammenwirken der Teile. Der Rhythmus der Herztätigkeit wird gestört, der Verdauungstrakt funktioniert nicht mehr normal und oftmals beginnen die Magensäfte die Magenwände selbst aufzufressen. Die Gallenflüssigkeit verdickt sich zu schmalen Steinen. Die Gelenke werden so steif und unbeweglich wie die Gedankenmuster.

Was geschieht dann? Wir beginnen, unseren Körper dafür zu hassen, was in ihm geschieht. Wir hassen den Zustand unseres Herzens, unseres Magens und der inneren Organe im Allgemeinen. Dies verschlimmert die Situation noch mehr. Die Liste jener Krankheiten, die durch Haß und einen Mangel an Liebe im Körper entstehen, scheint endlos. Dies heißt nicht, daß eine bestimmte Krankheit immer durch ein bestimmtes

Gedankenmuster verursacht werden muß. Doch die Medizin erkennt immer mehr den Zusammenhang von Körper und Psyche. Dabei kann sie entdecken, daß die psychische Hauptursache für Krankheiten der Mangel an Liebe und die »Pflege« von Haß ist. Wenn uns unser eigenes Wohlbefinden am Herzen liegt, können wir es uns nicht leisten, unsere Liebe nicht zu allem und jedem fließen zu lassen. Wenn uns dies als eine zu große Aufgabe erscheint, dann sollten wir zumindest niemanden hassen. Für unsere eigene Gesundheitsvorsorge ist es notwendig, Liebe zu leben und auszudrücken. Unser physischer Gesundheitszustand hängt in einem großen Maße davon ab, wieviel Liebe oder Haß wir in unserem Denken und Fühlen haben. 

FINDE ETWAS LIEBENSWERTES

Ebenso wie es eine harmonische Gegenseitigkeit zwischen dem Unendlichen und seiner Schöpfung gibt und zwischen der Liebe in unserer Psyche und in unserem Körper, so finden wir auch eine segensreiche Wirkung der Liebe auf die Zustände. Situationen und Menschen in unserer äußeren Erfahrung. Keine Situation und keine Beziehung kann zum Guten verändert werden, indem wir hassen. Haß verschlimmert und erschwert nur. Wenn etwas nicht so ist, wie wir es gerne hätten, besteht keine Notwendigkeit, es zu hassen oder zu bekämpfen. Dies würde nur unsere Energie und Zeit verschwenden, uns krank machen und nur dorthin bringen, wo wir nicht hin wollen.

Die einzige Lösung, der einzig gesunde, natürliche und kreative Zugang besteht darin, die universelle Kraft der Liebe in und durch uns und zu jedem Aspekt unserer Erfahrung fließen zu lassen. Wenn sie nach außen fließt, muß sie zurückkommen.

Gleichgültig bei welchem Zustand, bei welcher Situation oder Person wir dazu neigen, Ablehnung oder Haß zu empfinden, sollten wir innehalten und dieser Neigung nicht folgen. Auf irgendeine Weise sollten wir in dem, was wir ablehnen, etwas von Wert finden, egal wie groß oder klein es sein mag. Finde etwas Liebenswertes.

Liebe heilt und stärkt nicht nur die Psyche und den Organismus eines Menschen. Sie erweist sich auch als der entscheidende Faktor für sein physisches, mentales, emotionales und soziales Wohlergehen und Wachstum.

Piritim A. Sorokin

Dann konzentriere Dich nur auf das und lasse die anderen Aspekte außer Acht. Dadurch kann ein Fluß und ein Gefühl der Liebe von uns ausgehen. Wenn dieser Fluß fließt, öffnet sich der Kanal der gegenseitigen Wirkung. So, wie wir geben, werden wir empfangen. Die Wirksamkeit der Liebe in und durch uns sollte unsere gesamte Erfahrung durchdringen. Wir können nicht in einer Richtung lieben und in der anderen hassen. Wenn wir uns in einer Hinsicht von der segensreichen Wirkung der Liebe abschneiden, schneiden wir uns in in diesem Maße in jeder Hinsicht ab. Das heißt, wir sollten die Nachbarn zu unserer linken und die zu unserer rechten in unsere Liebe einschließen und keinen ausklammern. Dies bedeutet nicht, daß wir zu allen sehr vertraut sein müssen. Doch wir können es uns nicht leisten, wenn wir Haß und Widerstand an unserem Gemüt und Körper nagen lassen.

DU KANNST NICHT ALLEIN LEBEN

Es ist sehr offensichtlich, daß eines der größten Probleme, dem wir uns als Individuum und als gesamte Menschheit gegenüber sehen, seine Ursache in einem Mangel an Liebe und einem Mangel an dem Gefühl der Gegenseitigkeit hat. Jedes und jeder ist ein Teil des großen harmonischen Ganzen. Wenn diese Harmonie gestört wird, wenn sich ein Gefühl von vollständiger Unabhängigkeit einschleicht, dann beginnen die Probleme. Die Familie braucht ein Gefühl der Liebe und einen Sinn für die Gegenseitigkeit. Eltern und Kind verbindet ein Gefühl der Liebe füreinander, ein Sinn aufeinander bezogen zu sein. Dies heißt wiederum nicht, daß ein Kind nicht heranreifen und in die Welt gehen sollte. Aber es bedeutet auch nicht, so selbstbezogen und “autonom” zu werden, daß wir uns mit einem Gefühl von Ablehnung und Haß von den anderen abgrenzen. Ich denke, daß das Gleiche für die internationale Ebene gilt.

Es wäre schwierig, wenn nicht gar unmöglich, eine Situation, einen Zustand oder eine Beziehung zu finden, die nicht auf die schöpferische und heilende Macht der Liebe reagiert. “Liebe ist die große Wirklichkeit.” Diese Aussage, die über die Jahrtausende in den großen Offenbarungen und Weisheitslehren vozufinden ist, können wir mit Sicherheit als richtig ansehen. Wir brauchen dies nicht zu akzeptieren, nur weil es vor langer Zeit gesagt wurde. Wir brauchen nur unser eigenes Leben und unsere Erfahrungen genau zu betrachten, um diese Aussage zu bestätigen.

Liebe ist die Grundlage für harmonisches und konstruktives Handeln.

Und wenn uns dies nicht ausreichen würde, können wir mit den Experten für psychosomatische Medizin und mit Therapeuten sprechen. Sie werden uns mit ihren Erfahrungen und Erkenntnissen darüber, was der Mangel an Liebe alles an furchtbaren Wirkungen haben kann, in Schrecken versetzen. Auch wenn uns selbst nichts Dramatisches widerfahren ist, weil wir zu wenig Liebe für alles aufbrachten, so können unsere kleinen Ablehnungen und Widerstände langsam, aber sicher das Gute vermindern, das wir zur Zeit haben, und uns daran hindern, mehr Gutes in unsere Erfahrung kommen zu lassen.

DER MAGNET DES LEBENS

Es wäre sehr unklug, die größte aller Wahrheiten zu ignorieren oder zu vermeiden. Liebe ist der Magnet des Lebens und ein Gefühl, das alles durchdringen sollte, was wir tun und werden. Liebe sollte von uns zu jedem fließen, dem wir begegnen. Mit wachsender Einsicht werden wir feststellen, daß ohne Liebe das Leben nicht lebenswert ist. Ein großer Teil unserer physischen Probleme kommt durch einen Mangel an Wertschätzung, Glück und Freude. So sollten wir uns für alles verzeihen, was wir früher an Liebe in unserem Denken und Handeln versäumt und abgewehrt haben, sollten dann diese Versäumnisse aus unserem Gemüt gehen lassen und an ihrer Stelle ein liebevolles Denken über die vergangenen Situationen einüben.

Spielt Liebe nicht eine große Rolle in dem Leben, das wir wirklich erfahren möchten? Ja, sie ist eine Grundlage, auf der alles andere aufbaut. Ohne sie würden wir das, was wir uns wünschen, schneller zerstören, als wir es hervorbringen können.

Liebe heilt, bringt Frieden und erhält Harmonie auf allen Ebenen.

Liebe heilt, bringt Frieden und erhält Harmonie auf allen Ebenen. Liebe ist der Ausdruck des unendlichen Geistes als seine Schöpfung. Indem wir diesen Ausdruck in uns annehmen, indem wir Liebe zu Gott und der Weh fließen lassen und sie auch zu uns zurückkehren lassen, werden wir entdecken, daß alles andere darin enthalten ist. Es gibt nicht Gutes, das nicht von Liebe eingeschlossen wäre. Liebe ist die größte Macht, die es gibt. Wenn wir sie anwenden, wird sie uns zu unserem Wohl dienen.

Ernest Holmes

Ernest Holmes

Ernest Holmes (1887 – 1960) war Philosoph. Schriftsteller und Lebenslehrer. Seine Philosophie hat er in vielen Büchern und Vorträgen weitergegeben. Sein Hauptwerk ist in  Deutsch unter dem Titel “Die Vollkommenheitslehre” erschienen.