BLÜHEN HEISST: SICH ÖFFNEN
Reinhard Eichelbeck

Wieder einmal sitze ich im Garten, wie jedes Jahr um diese Zeit, und schaue den Blüten zu, die ihre Knospen sprengen, um sich zu entfalten. Die Knospe – und das sieht man, wie ich finde, besonders schön bei den Rosen – ist wie eine kleine gepanzerte Festung. Sie schützt die heranwachsende Blüte wie die Eischale oder die Gebärmutter den Embryo. Und innerhalb dieser schützenden Hülle” wächst auf wunderbare Weise die Blüte zu der ihr eigenen Form heran, in Viereck-, Fünfeck-, Sechseck oder anderer Symmetrie, dabei immer der Proportion des »Goldenen Schnittes« folgend. Und zu allem Überfluß tut sie dies auch noch, während sie auf kleinstem Raum zusammengefaltet ist. Was für eine organisatorische Genialität liegt in diesem für alle Pflanzen so einfachen und selbstverständlichen Vorgang! Die Wissenschaft billigt den Pflanzen nicht einmal ein Nervensystem, geschweige denn ein Gehirn zu. Wie intelligent ist dagegen der Mensch! Und doch: nirgendwo im Bereich menschlicher Erfindungen gibt es etwas, das diesem Schöpfungsprozeß im Innern der Knospe auch nur annähernd vergleichbar wäre.

Die Knospe schützt die Blüte, solange sie heranwächst – aber irgendwann, wenn sie eine bestimmte Wachstumsphase erreicht hat, ist es Zeit, die Hülle zu sprengen, geboren zu werden, sich zu öffnen, zu blühen. Denn was blühen will, muß sich öffnen. Blühen aber, sich selbst, das eigene Wesen zur Entfaltung zu bringen, ist die Aufgabe der Blume.

Beim Menschen ist es ähnlich. Auch er hat die Aufgabe – man könnte auch sagen: das Vorrecht oder die Chance -, sich zu seinem wahren Wesen zu entfalten: zu blühen. Während sich aber die Blume ganz selbstverständlich zur rechten Zeit öffnet, hat der Mensch hier oft Schwierigkeiten. Er hat Angst, sich zu öffnen, weil er fürchtet, sich aufzugeben oder überrannt oder verletzt zu werden. Diese Furcht ist nicht ganz unberechtigt, solange der Mensch noch nicht auf dem Weg der Selbsterkenntnis ans Ziel gekommen ist, d.h. zu sich selbst gefunden hat, denn dann kann er, wenn er sich zu früh öffnet, leicht abgelenkt und vielleicht auch ausgebeutet werden.

Es scheint also schon vernünftig, wie die Blume es mit der Knospe tut, sich abzuschirmen, bis man Klarheit gewonnen hat über das eigene wahre Wesen und damit über die Dinge, die man zur Selbstverwirklichung braucht. Dann aber – spätestens – muß man sich öffnen, weil man sonst innerlich erstarren und ersticken bzw. verfaulen würde.

Leider gibt es viel zu viele Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, es nicht wagen, sich zu öffnen und zu blühen, ihr wahres Wesen zur Entfaltung zu bringen. Ursache ist wohl meist die Erinnerung an alte Verletzungen und die Furcht vor neuen. Aber wenn man sich selbst gefunden und (vor allem!) auch angenommen hat, braucht man keine Angst mehr vor Verletzungen zu haben. Nicht deshalb, weil man nun keine Schmerzen mehr empfinden könnte, sondern weil man jetzt die Kraft hat, sie zu ertragen und zu überwinden.

In jedem Lebewesen steckt ein ursprünglicher Trieb zur Selbstentfaltung, zur Entfaltung des eigenen wahren Wesens – worin auch immer dies bestehen mag. Dieser Trieb verfügt über ungeheuere Energiepotentiale. Ich habe vor Jahren auf einem asphaltierten Feldweg einen Löwenzahn gesehen, der eine 3 bis 4 Zentimeter dicke Asphaltschicht gesprengt und sich hindurchgearbeitet hatte, nur um sich zu entfalten und zu blühen. Auch im Menschen sind dieser Trieb und diese Kraft vorhanden. Sie werden aber häufig nicht, oder zumindest nicht richtig genutzt – weil man sich von außen ablenken läßt und fremde Ziele anstrebt, anstatt das eigene wahre Wesen in gelebtem Leben zu verwirklichen. Die Kraft, die sich in der Selbstverwirklichung sinnvoll äußern könnte, fließt dann oft in Aggressionen (nach außen, gegen andere Menschen, bzw. nach innen, gegen sich selbst) oder wird in Ersatzhandlungen (z.B. Konsum) umgelenkt. Wenn man dies erkennt und sich auf dem Weg der Selbstannahme zur Selbstentfaltung aufmacht, wird man mit Erstaunen feststellen, daß man plötzlich über ungeahnte Kraftpotentiale verfügt. Allerdings steht nach meiner Erfahrung uns diese Kraft in vollem Maße tatsächlich auch nur für jene Ziele zur Verfügung, die der Entfaltung unseres wahren Wesens dienen. Je mehr wir uns von uns selbst entfernen, um so mehr schwindet diese Kraft dann wieder.

Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung ist die primäre Lebensaufgabe eines jeden Lebewesens. Selbstverwirklichung – im wahren Sinne des Wortes – ist aber kein egoistisches oder egozentrisches Verhalten, sondern die natürliche Art und Weise, wie ein Individuum sich in das größere Ganze, von dem es ein Teil ist, sinnvoll einordnen kann. Die Natur zeigt uns hier in jedem nur erdenklichen Aspekt positive Beispiele – vor allem in der Zusammenarbeit von Blumen und Insekten. Das Insekt findet in der Blüte seine Nahrung und hilft dabei der Blume bei der Fortpflanzung. Beide profitieren davon, daß sie sich gegenseitig helfen – und sie helfen sich durch nichts anderes, als daß beide sich ihrem Wesen gemäß verhalten. Indem sie sich selbst verwirklichen, helfen sie sich gegenseitig und dienen damit der Gemeinschaft.

Diese Form der Kooperation oder Symbiose ist in der Natur die Regel – im Gegensatz zur menschlichen Gesellschaft. Aber die läßt sich ja ändern. Zum Beispiel, indem wir unser Verhalten ändern und uns, der Natur folgend, auf den Weg der Selbstentfaltung machen. Jedes Lebewesen in der Natur hat einen Sinn und Zweck und eine Aufgabe im Rahmen des Ganzen zu erfüllen. Warum sollte es beim Menschen anders sein? Jedes Lebewesen in der Natur erfüllt seinen Sinn und seine Aufgabe, indem es sich selbst verwirklicht, indem es ist, was es ist. Warum sollte es beim Menschen nicht ebenso sein?

Die Erfahrungen der Geschichte zeigen uns, daß die menschliche Gesellschaft umso schlechter funktioniert, je mehr die Menschen daran gehindert werden, sich selbst zu verwirklichen. Ich denke, es gibt keinen vernünftigen Grund, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Warum also sollten wir nicht dem Beispiel der Blumen folgen und uns öffnen, entfalten, blühen?

 

Reinhard Eichebeck ist freier Journalist, Autor und Filmemacher. Er war viele Jahre Redakteur bei ARD und ZDF, wo er u.a. die Sendereihen »Die Erde, der Himmel und die Dinge dazwischen« und »Einblick« produzierte.

Quelle: CSA Magazin