SUCHT NACH SCHMERZ?

Durch eine Teilnehmerin am »Intensiv-Workshop Selbstannahme« ist mir verdeutlicht worden, wie sich eine Sucht nach Schmerz manifestieren kann. Sie war verheiratet und hatte zwei Kinder mit ihrem Mann. Ihr Mann schlug sie des öfteren. Als ich sie fragte, warum sie das zuließ und immer noch mit ihm zusammen sei, antwortete sie mir, ihr Mann liebe sie, schließlich sei sie ihm so wichtig, daß er sie schlägt. Als ich heraushörte, daß sie die Schläge ihres Mannes als Liebesbeweis nahm habe ich sie gefragt, ob sie als Kind auch geschlagen worden sei. Sie berichtete, daß ihr Vater oft in die Scheune kam, in der sie mit ihren drei Brüdern spielte, und dort die Brüder der Reihe nach verprügelte. Sie konnte gar nicht mehr berichten was eigentlich jedesmal vorgefallen war. Sie wußte nur, sie selbst hatte sich zunächst aus Angst vor Prügel verkrochen, bis sie merkte, daß ihr Vater nie nach ihr schaute und sie auch nicht schlug. Mit der Zeit war sie überzeugt, daß sie ihrem Vater egal war, ja, nicht einmal wichtig genug, daß auch sie ihn in Rage bringen konnte.

DAS VERWUNDETE KIND IN UNS

Die Sucht nach Schmerz zeigt sich auch anders. In einer Art, in der die Zusammenhänge eher noch weniger erkennbar sind. Da wird ein Kind geboren, das ein sogenannter »Unfall« ist. Der Vater ist vielleicht sogar verheiratet und lehnt das außerehelich gezeugte Kind ab. Es ist ihm lästig, der Seitensprung wird offensichtlich; er will, daß die Mutter es abtreibt. Der Mutter ist die Situation auch mehr als unangenehm. Zu früheren Zeiten war das eine Schande, und die Enttäuschung mit dem Mann mußte sie ja auch verkraften. Ein eher ungefährlicher Schwangerschaftsabbruch war noch nicht möglich, vielleicht hat sie alles Mögliche ausprobiert, um das Kind im Bauch loszuwerden.

Das Kind im Mutterleib erlebt das alles mit. Es entstehen tiefe Wunden im Gemüt des Ungeborenen wie: »Ich bin nicht erwünscht, nicht gewollt, eine Last und wenn geboren, ein notwendiges Übel, eine Schande, zum Leben nicht wert und nicht berechtigt.

«Es fühlt außerdem die Ängste der Mutter und deren Belastungen. Das sind Wunden im tiefen Unbewußten des Kindes, weil sie in der pränatalen Zeit entstanden sind. Sie erzeugen unbewußte Schuldgefühle. Das Kind fühlt sich schuldig, daß es dem verheirateten Vater und der alleingelassenen Mutter so viel Unannehmlichkeiten schafft. Das heranwachsende

Kind ist sich dieser Wunden nicht bewußt. Es wird sich, gesteuert vom Unbewußten, ständig Situationen im äußeren Leben schaffen, wodurch es den Urschmerz wieder erlebt, immer wieder. Es weiß nicht warum, aber es fühlt sich ungeliebt, nicht gewollt, nicht wert und nicht berechtigt. Es ist über Schuldgefühle zu manipulieren. Dieses verwundete Kind lebt mit seinem Urschmerz im inzwischen Erwachsenen.

Dieser herangewachsene Mensch hat Überlebensmechanismen (Abwehrmechanismen) entwickelt, um den Urschmerz nicht spüren zu müssen. Bricht jedoch z.B. eine ihm wichtige Beziehung auseinander oder ein Verlust durch Tod wird erfahren, erlebt dieser Mensch einen Schock. Dieser Schock bewirkt Trauer in ihm über den Verlust. Mit der Trauer kommt der Urschmerz an die Oberfläche des Gemüts (das verwundete  Kind), das der Erwachsene jetzt nicht mehr im Griff hat. Seine Abwehrmechanismen können jetzt die Situation nur noch verschlimmern, die Not vergrößern. Er ist mit der Wucht der inneren Verletzungen konfrontiert, die so viel Energie in seinem Innern in Bewegung setzen und so schmerzhaft ist, daß er glaubt, es nicht aushalten zu können. Das sind die bekannten Augenblicke, in denen viele Menschen meinen, der Selbstmord wäre eine Lösung und würde dem Schmerz ein Ende setzen.

Nicht alle Schicksale oder Kindheitserlebnisse sind so schwerwiegend. Auch ein strafender, kritischer oder verachtender Blick vom Vater kann das Kind treffen. Ein hartes Wort, eine Zurückweisung, keine Zeit und ähnliches kann sehr schmerzhaft sein und zu Wunden im Gemüt des Kindes führen. Das Kind in uns mag eine Sehnsucht in sich tragen, die nie erfüllt worden ist. So erfahre ich erwachsene Männer, die sehr nach ihrem Vater weinen, der im Krieg gefallen oder früh gestorben ist. Diesen Verlust wie viele andere werden dann zum erstenmal wirklich bedauert. Eine Mutter mag früh verstorben sein, Eltern haben sich getrennt, ein Elternteil war vielleicht erkrankt und wenig verfügbar, oder es gab wenig Nähe und Wärme, weil der Geschäftshaushalt die ganze Zeit der überbeschäftigten Eltern in Anspruch nahm. Wir erfahren soviel Schmerzhaftes über das Kind in den Erwachsenen, die in unsere Workshops kommen, was durch das Abwehrverhalten, ich nenne es auch das aufgesetzte Verhalten (das über die Wunden und Grundgefühle darüber gestülpte erhalten) nicht sogleich sichtbar ist.

Doch die Wunden im Gemüt und unsere unbewußten Abwehrmechanismen bilden einen energetischen Magneten, der fortwährend Situationen und Ereignisse in unser Leben zieht. Sozusagen werfen diese Wunden und Reaktionsbilder ihre Schatten voraus. In seinem Buch »Die Macht der Seele. erlebte Wirklichkeit« schreibt Roy Eugene Davis: »Wie zwangsläufig ein entsprechender Schatten entsteht, wenn wir bestimmte Formen vor ein Licht halten, so sind die Schicksalserfahrungen des Menschen nichts als ein Schattenwurf seiner Gedankenbilder (mental-emotionale Reaktionsbilder), gehalten vor das ewig-flutende Lichtmeer der Substanz.«

DAS KIND, DAS DU EINMAL WARST, IST NOCH IN DIR

Wenn Du z.B. mit Dir nichts anzufangen weißt und merkst nach etwa drei Stunden, daß Du gelangweilt vor der Flimmerkiste sitzt und Dich wunderst, wie Du da hingekommen bist, dann machst Du eine Erfahrung mit dem inneren Kind, denn es hat Dich da hingebracht. Oder, obwohl der ganze Tag ausgefüllt ist und Du sehr beschäftigt bist, und Dich dennoch am Abend leer fühlst, ist es das innere Kind, das sich meldet. Oder wenn Du unangenehme Gefühle kompensierst mit Essen, Rauchen, Trinken, Drogen, Überbeschäftigung und aufregenden äußeren Erlebnissen usw., weichst Du dem Kind in Dir aus. Wenn sich das Kind mit seinen unangenehmen Gefühlen meldet und Du weichst immer mehr aus, führt Dich das in jede Art von Sucht. Wenn du den wirklichen Hunger (die Leere) des Kindes in Dir nicht spürst und nicht stillst, entfernst Du Dich immer mehr von Deinen Gefühlen, rennst immer weiter von Dir weg.

Wie lenkst Du Dich von innerer Leere ab? Vielleicht mit Einkaufen, mit Arbeit, vielleicht räumst Du wie wild auf und machst überall Ordnung? Du hältst Dich so beschäftigt, nur um das unangenehme Gefühl nicht spüren zu müssen.

IM WIEDERHOLUNGSZWANG

Da das verwundete Kind im Menschen sich unbewußt solange im Wiederholungszwang befindet, bis der Mensch über diese Gesetzmäßigkeit des Gemüts erwacht und etwas verändert, können wir auch hier von der Sucht nach Schmerz sprechen. Wenn das Leid dann groß genug ist, ist der Mensch eher bereit, etwas in seinem Leben zu verändern. Wenn der Erwachsene, in dessen Innem sich ein verletztes Kind verbirgt, eine Situation erlebt, die einem schmerzhaften Schlüsselerlebnis ähnelt, wird auch die ursprüngliche Reaktion und der dahinter liegende Urschmerz wieder ausgelöst. Etwas, was im Grunde unerheblich sein mag, führt zu einer intensiven Gefühlsreaktion.

Der Betroffene reagiert auf etwas, was es in der Außenwelt gar nicht gibt, sondern was nur in seinem Innern existiert. Er kann nicht differenzieren, daß das Verhalten eines anderen Menschen, das seine Wunde schmerzhaft berührt, nur eine geringe Verursachung darstellt im Vergleich zu der verdrängten schmerzhaften Energie des Urschmerzes. Je früher der Verdrängungsprozeß stattgefunden hat, um so destruktiver sind die verdrängten Gefühle. Diese unaufgelösten und nicht ausgedrückten Gefühle nennt Bradshaw den »Urschmerz« und bringt auch den Beweis für die Theorie von der Verarbeitung des Urschmerzes. Er sagt, daß zur Verarbeitung dieses Urschmerzes ein Wiedererleben des frühkindlichen Traumas und das Ausdrücken der verdrängten Gefühle gehört.

Soweit wie ich es durchschaue, hat es das Leben weise eingerichtet, daß wir nach der Gesetzmäßigkeit des Gemüts solange den Urschmerz wiederbeleben, bis wir letztlich lernen, statt die Gefühle und den Schmerz zu verdrängen, durch beides hindurchzugehen, es zum Ausdruck zu bringen und aufzulösen.

Wenn Du also in einer Situation oder in einer Beziehung bist, die Dich unglücklich sein läßt, und Du trotzdem noch immer festhältst und nicht losläßt, was Dich unglücklich sein läßt, dann kannst Du Dir jetzt die Frage stellen: Ist es nicht Zeit, die Freude über den Schmerz zu stellen? Ist der Preis, den Du zahlst, noch nicht hoch genug? Was bekommst Du für den Schmerz? Ist das, was Du bekommst, wirklich lebenswert? Wie wäre Dein Leben ohne den Schmerz und ohne diesen Gegenwert? Was hält Dich schmerzhaft abhängig? Könnte es Dich befreien, die Vergangenheit aufzuarbeiten, um in der Gegenwart glücklich zu sein? Was verursacht das Leid? Sind es Zu- oder Abneigungen, zwanghafte Wünsche, leidverursachende Reaktionsweisen, Ängste, begrenzende Glaubensmuster, bedingtes Bewußtsein, ein einschränkendes Eltern-Ich?

FRIEDEN SCHLIESSEN MIT DEN ELTERN

Ich möchte es gleich an den Anfang stellen: Das verwundete Kind in uns anzunehmen heißt nicht, die Eltern anzuklagen. Vielmehr lernen wir, über das Kind in uns, das Kind in unseren Eltern anzuerkennen und mit ihm mitzufühlen. Wenn die Frage gestellt wird: »Haben denn alle Eltern ihre Kinder verletzt?« folgt bald das Erkennen, daß unsere Eltern ihr Bestes

gegeben haben, zu dem sie in der Lage waren. Doch da sie selbst ein verwundetes Kind in sich tragen, haben sie auch dieses Kind mit seinem Schmerz und Abwehrmechanismen in ihrer Beziehung zu ihren eigenen Kindern zum Ausdruck gebracht. Immer, wenn Eltern ihre Kinder nicht mit Liebe, Achtung und Wertschätzung behandeln, entstehen Wunden.

Viele Eltern bestätigen mir das bei unserem Workshop. Sie haben sich fest vorgenommen, sie würden alles einmal anders machen, den eigenen Kindern gegenüber. Bis sie zu einem späteren Zeitpunkt bei ehrlicher Selbstbetrachtung festgestellt haben, daß sie doch so geworden sind, wie sie niemals haben werden wollen. Und damit haben sie das, was ihnen ein verletztes Kind in ihren Eltern angetan hat, auch weitergegeben.

Das ist zwar schmerzlich, doch wir dürfen die Augen vor dieser Realität nicht verschließen und auch nicht verleugnen, was wirklich gewesen ist. Eine Veränderung und Auflösung dieses Karmas, das von Generation zu Generation weitergegeben wird, kann nur erfolgen, wenn wir für unser Verhalten Verantwortung übernehmen und uns ohne Schuldzuweisung an die innere Arbeit machen.

DAS KIND IN DIR BRAUCHT DICH

Durch das abhängige Kind in uns, das seinen Mangel, seine Bedürfnisse uns seinen Wert über andere Menschen stillt, haben wir die Macht, die in uns ist und die wir zur Befreiung des Kindes in uns brauchen, an andere Menschen abgegeben. Die Anerkennung, die das Kind in uns von uns, dem Erwachsenen braucht, suchen wir in Unkenntnis der Zusammenhänge draußen. Was tun wir nicht alles, um von anderen Menschen Anerkennung zu erhalten?

Den Wert, den das Kind in uns nicht fühlen kann, verschaffen wir uns durch besondere Anstrengung, durch Leistung am Arbeitsplatz, in der Familie, unter Freunden. Wie beweist Du Dir Deinen Wert in Deinen Beziehungen? Was machst Du alles, um Dich wert zu fühlen? Bemühst Du Dich, ein besonders guter Liebhaber zu sein?

Das Kind in uns bestimmt also das Leben des Erwachsenen mit seinem ungestillten Hunger nach Liebe, Beachtung und Zuneigung. Bedürfnisse eines Kindes sind die Bedürfnisse eines Abhängigen und wollen durch einen anderen Menschen befriedigt werden. Nur wenn wir uns dem Kind in uns selbst annehmen und den Verlust betrauern, kann eine Heilung stattfinden. Bis dahin wird das verletzte Kind in uns immer wieder gierig die Liebe und Wertschätzung bei anderen Menschen suchen, die ihm in der Kindheit versagt geblieben ist

und schmerzhaft abhängig bleiben. Bradshaw zählt auf, wie es solchen Menschen ergeht:

– sie erleben in ihren Beziehungen ständig Enttäuschungen

– sie suchen immer die/den vollkommene/n LiebhaberIn, die/der alle ihre Bedürfnisse befriedigen wird

– sie werden süchtig (Die Sucht stellt den Versuch dar, die innere Leere auszufüllen. Sucht nach Sexualität und Liebe sind typische Beispiele.)

– sie streben nach materiellen Gütern und nach Geld, um ihr Selbstwertgefühl zu steigern

– sie stellen sich dar (als Schauspieler oder Sportler), denn sie brauchen die ständige Bewunderung eines Publikums

– sie versuchen, von ihren Kindern die Liebe und die Bewunderung zu bekommen,

die sie von ihren Eltern nicht bekommen haben.

DAS KIND IN SICH FINDEN

Damit wir uns aus schmerzhafter Abhängigkeit lösen können, ist es wichtig, das Kind in uns zu finden, sozusagen ganz zu uns selbst zu kommen. Also nicht nur auf spiritueller Ebene »ja« zu uns selbst zu sagen und uns anzuerkennen, sondern auch und gerade das verwundete Kind in uns wahrzunehmen und anzunehmen. John Bradshaw schreibt in seinem Buch »Das Kind in uns«, er habe so viele Therapien gemacht, 13 Jahre spirituelle Praktiken geübt, und erst, nachdem er die Arbeit mit dem Kind in sich begonnen hat, fand er die Befreiung, nach der er sich Jahrzehnte lang gesehnt hatte.

Ich kann bestätigen, daß viele den Workshop mitmachen, die schreien, weinen und toben können, und doch mit ihrem inneren Kind nicht in Kontakt sind. Sie haben noch keinen Kontakt zu dem Kind in sich, weil ihnen noch niemand den Zugang gezeigt oder ermöglicht hat. Wenn ich ihnen dann den »Ego-Kreislauf« vorstelle mit seinen mehr als einhundert verschiedenen Aspekten des Gefühls des Getrenntseins, dann kommen sie sich schon etwas näher. Einige solcher schmerzhaften Grundgefühle sind: sich nicht geliebt, verlassen, nicht verstanden, ungerecht behandelt, im Stich gelassen, bestraft, betrogen, nicht angenommen, nicht anerkannt, unwichtig, leer usw. fühlen.

Das Kind in uns braucht unsere Aufmerksamkeit, unsere Zuwendung, unser Interesse. Da wir im Laufe des Lebens immer mehr nach Außen gegangen sind, um uns von den unangenehmen Gefühlen im Inneren (dem Kind in uns) abzulenken, hat sich das Kind weit im Innern zurückgezogen, es sitzt sozusagen in einem Gefängnis. Um es in uns zu finden, müssen wir in die Zeit zurückgehen, in der wir es verlassen haben. Das ist in diesem Leben meist in frühester Kindheit passiert, in der es sich verletzt gefühlt hat. Vielleicht war das Kind ( das göttliche) einmal quicklebendig, sozusagen ein »Zappelphilipp«. Doch nach wiederholten Verletzungen wurde es zur »Heulsuse«. Es hat dann ein falsches Selbst entwickelt, und wir wundem uns, warum wohl? Nun, das Kind fand schnell heraus, daß es bei Anpassung an die Eltern weniger Schimpfe bekam. Es hat sich gesagt, wenn ich genauso werde, wie Mama und Papa, sind sie mir nicht böse und ich bekomme Liebe von ihnen. Oder wenn ich krank bin, sind sie mit mir nicht streng, sondern kümmern sich mehr um mich. Oder ich bleibe Mamas Kleine, dann bin ich nicht verantwortlich zu machen.

Auf diese Weise entwickelt das Kind ein falsches Selbst. Es zeigt sich immer weniger, wie es wirklich ist und wie es fühlt. Es kann es sich gar nicht mehr leisten, sich mit sich seIbst zu befassen, zu fühlen, was es fühlt. Es muß achtgeben, in der Familie nicht unter Streß zu geraten, sich nicht überfordert zu fühlen und muß lernen, Bedrohlichem auszuweichen.

Es schützt sich, hat alles unter Kontrolle, aber es spürt sich selbst nicht mehr. Vielleicht weicht es hier und da in Phantasien aus und weiß bald selbst nicht mehr, was wirklich ist. Bald fühlt der Heranwachsende tatsächlich nicht mehr, wie es in ihm aussieht. Das Kind in ihm sitzt einsam und traurig in seinem Versteck. So kennt dann der Erwachsene nicht mehr seine wahren Bedürfnisse. Er hat sich nach Mama oder Papa ausgerichtet, sich ständig nach außen orientiert, und weiß jetzt nicht mehr, was er wirklich zu seinem wahren Wohlbefinden braucht.

Die Schutzmauer um sein verletztes Kind ist so dick, und die Abwehrmechanismen haben auch das Herz eisern und kalt werden lassen, damit niemand von außen die Wunde im Innern berühren kann. Wir wundem uns, warum keine Liebe in unserem Leben ist. Wenn wir selbst Liebe nicht fühlen können, wenn wir sie aus Angst vor Zurückweisung nicht mehr zu anderen Menschen fließen lassen, kann keine Nähe, keine Intimität entstehen, und wir fühlen uns einsam. Wenn das verletzte Kind in uns in einer Umarmung sich nicht zeigen will, kann oder darf, dann kann keine Liebe, keine Intimität entstehen.

Ein Mensch, der ein falsches Selbst entwickelt hat, kann sich auch einem anderen Menschen nicht hingeben. Ein solcher Mensch kann auch nicht glücklich sein, weder mit sich noch mit anderen. Denn wenn er mit sich selbst nicht in Kontakt ist, sich selbst nicht nah ist, wie kann er einem anderen Menschen nah sein? Ein Mensch, in dem die Abwertung steckt, die er als Kind erfahren hat, kann auch nicht glauben, wenn wir ihm sagen, daß wir ihn schätzen und er uns wichtig ist. Er wird eher mißtrauisch und fragt sich, was der andere wohl von ihm will?

Nun, das Kind in uns braucht Vertrauen zu seinem Erwachsenen-Ich oder zu seinem spirituellen Selbst (seinem wahren Wesen), um uns den Weg zu ihm zu zeigen. Wir scheinen alle so erwachsen und tragen vielleicht ein Kind in uns, das drei oder vier Jahre alt ist.

DIE HEILUNG DES INNEREN KINDES

Während wir anfangs im Intensiv-Workshop Selbstannahme vor allem die unbewußten Abwehrmechanismen bewußt gemacht haben, haben wir inzwischen mehr Raum geschaffen, auf den Urschmerz des verwundeten Kindes in uns einzugehen. Das spirituelle Selbst, das unser wahres Wesen ist, nimmt sich dem verwundeten Kind in uns an und stellt einen liebevollen Kontakt her. Es nähert sich dem verletzten Kind in uns mit vollkommener Annahme, Verständnis und wahrer, bedingungsloser Liebe. Es spricht zu ihm in einer Weise, wie es das Kind in uns vielleicht noch nie in seinem Leben gehört hat. Dabei habe ich eine Vorgehensweise entwickelt, die nicht nur einen unmittelbaren Kontakt zu dem Kind in uns herstellt, sondern auch augenblicklich von lange verdrängtem Urschmerz befreien kann. Ich habe diese Methode nicht nur im Intensiv-Workshop entwickelt und angewandt, sondern auch an unsere auszubildenden Gruppenleiter und Therapeuten vermittelt, die den gleichen augenblicklichen Erfolg bei der Heilung  des inneren Kindes in der Arbeit untereinander und mit anderen erleben. Ergebnis dieser Arbeit ist Freisetzung von Lebensfreude, schöpferischer Energie und Lebenskraft. Es passiert dann gar nichts Aufregendes im äußeren Leben, und doch ist das Kind in uns gesättigt. Die innere Leere wurde vom wahren Wesen gestillt.

Es braucht keinen Ersatz mehr von außen. Das Kind ist nicht mehr abhängig. Das wahre Wesen hat dem Kind in uns geholfen, vom verwundeten Kind zu seinem göttlichen Sein zurückzufinden, heimzukommen, wie es John Bradshaw beschreibt.

DAS KIND IM ANDEREN

In dem Maß, wie wir das Kind in uns wahrnehmen und lernen, mit ihm zu fühlen, für seine Bedürfnisse einzustehen und uns aus schmerzhaften Abhängigkeiten schrittweise zu befreien, so ist es uns mehr und mehr möglich, mit dem Kind im anderen mitzufühlen. Allmählich wachsen wir in die wahre Liehe zu den uns Nahestehenden, wie wir sie für das Kind in uns zu fühlen gelernt haben. Es ist ein großes Geschenk, ja Gnade, wenn Paare, Freunde oder Angehörige diesen Weg der Heilung gemeinsam gehen. Unsere eigene Erfahrung mit den Workshop-Teilnehmern zeigt, daß jetzt nicht nur Frieden mit den Eltern, sondern Heilung ganzer Familien möglich ist. Bevor das geschieht, sind oft da Auseinandersetzungen im Gange, wo vorher im Streben nach Harmonie Unliebsames zugedeckt und nicht angesprochen wurde. Wo vorher Angst und Scheu vor Konflikten war, werden jetzt mit neu erlernten Methoden Konflikte angegangen und gelöst.

Kein leichter Weg, oft sogar sehr schmerzhaft, dann aber befreiend. Wenn wir zugeben, allein schaffe ich es nicht, aber mit Gott ist mir dieser Weg der Heilung möglich, sind wir schon zur Hälfte auf dem Weg. Der Erfolg hängt davon ab, wie ehrlich wir es meinen.

MEIDEN VON UNWAHRHAFTIGKEIT

In seinem Buch »Die Macht der Seele, erlebte Wirklichkeit« schreibt Roy Eugene Davis, daß ein ganz im Wahrheitsbewußtsein lebender Mensch die Macht hat, sein gesprochenes Wort Wirklichkeit werden zu lassen. »Sind wir unwahrhaftig, so kommt dies einem Versuch gleich, einen Teil unseres Bewußtseins vor sich selbst zu verbergen, was natürlich nicht möglich ist. Das innere Geschehen ist dann folgendes: das Gemüt verschließt sich bestimmten Tatsachen und belügt sich selbst. Sind alle Verwinkelungen aus dem Gemüt verschwunden, so erfüllen sich alle Wünsche, und was auch immer ein solcher Mensch in Erscheinung treten lassen möchte, es wird geschehen… «

Wir würden so gerne mit der Macht des gesprochenen Wortes unser Gutes in Empfang nehmen. Doch solange wir das im Gemüt (auf den unterschiedlichen Ebenen des Bewußtseins) Verborgene nicht wahrhaben wollen, verschließen wir uns bestimmten Tatsachen (den unbewußten und unterbewußten Wunden) im Gemüt und belügen uns selbst (durch Abwehrmechanismen schaffen wir leidverursachende Verhaltensweisen). Mit den Wunden im Gemüt stehen wir sozusagen unserem Guten selbst im Wege, schaffen ständig die Hindernisse selbst Erwachsene, deren inneres Kind verletzt worden ist, haben bis zu einem gewissen Grad den Kontakt zu ihren Gefühlen, zu ihren Bedürfnissen und Wünschen, mit anderen Worten, zu dem Kind in sich verloren. Sie reagieren unangemessen, anstatt spontan zu handeln. In dem Augenblick, wo wir beginnen, mit dem Kind in uns in Kontakt zu kommen, übernehmen wir größere Verantwortung. Wir bewegen uns aus der Opferrolle und schaffen neue Ursachen.

Sich aus krankhafter Scham, aus Urschmerz und aus Gefühlen neurotischer Schuld zu befreien, ist kein leichter Weg. Wann fängst Du damit an? Was sagt das verletzte Kind in Dir? Möchte es nicht lieber das göttliche, kreative und spielerische Kind sein, das Freude am Leben hat?

 

Literatur zu diesem Thema:

John Bradshaw, »Das Kind in uns«
Chopich/Paul, »Aussöhnung mit dem inneren Kind«
Roy Eugene Davis, »Die Macht der Seele. erlebteWirklichkeit«

 

Rosemarie Schneider-Bassett

Rosemarie Schneider-Bassett

Rosemarie Schneider-Bassett war über 25 Jahre lang Autorin mit vielen hundert Veröffentlichungen und Audio-Kursen sowie Seminarleiterin in mehreren europäischen Ländern sowie in den USA.