Uns selbst durch Innere Einkehr entdecken
David A. Cooper

Seit Gedenken der Menschheit schlagen Weise in ihren Lehren vor, daß wir zunächst direkte Erfahrung erlangen müssen, bevor wir spirituelle Gaben wahrhaft schätzen können. Vor tausenden von Jahren empfahlen Lehrende: werde ruhig, verbringe Zeit mit Dir allein, gehe in Dich, entdecke Deine eigene Wahrheit, nimm nichts als selbstverständlich hin, der Meister lebt in Dir. Z.B. lehren die Upanishaden, die altehrwürdige Schrift der hinduistischen Mystiker: »Ziehe Dich an einen einsamen Ort zurück … geschützt von Wind und Regen …. Übe Dich in Meditation und anderen spirituellen Praktiken.«

Egal wie viel wir studieren, wir kennen die tiefe Wahrheit erst, wenn wir direktes Wissen erlangen. Aber weshalb werden wir angeleitet, uns an einen einsamen Ort zurückzuziehen? Aufgrund unserer gewohnten Lebensweise können wir unsere Erfahrungen nicht völlig so annehmen und schätzen, wie sie spontan auftreten. In der spirituellen Sprache heißt dies: Wir versäumen den Augenblick und das was in ihm geschieht, weil wir spirituell schlafen.

Tatsächlich können wir uns auf leidenschaftlichste Weise mit spirituellen Texten und mit traditioneller religiöser Literatur beschäftigen und dennoch spirituell schlafen. Millionen religiöser Menschen nehmen an Gottesdiensten teil und wenden eine Vielfalt von Praktiken an und sind, aus der Sicht mystischen Bewußtseins, im Tiefschlaf. Was ist also mit Erwachen gemeint?

Wie erwachen wir?

Ganz einfach: Erwachen erfolgt durch persönliche, direkte Erfahrung des göttlichen Wesens in uns. Das kann nicht mit dem Verstand erreicht und auch nicht gelehrt werden. Es ist eine Wahrheit, die die Realität von Zeit und Raum überschreitet. Deshalb ist sie nicht Teil unseres normalen Erfahrungsbereichs. Sie muß in einem anderen Zusammenhang gefunden werden und erfordert höheres Gewahrsein durch erweitertes Bewußtsein. Wir alle erfahren Momente oder Zeiten erweiterten Bewußtseins und transzendentalen Gewahrseins. Sie entstehen und vergehen als natürliche Folge täglicher Aktivitäten: Streß, Entspannung, Konfrontation, Angst, Sorge usw.

Wer meditiert kann häufiger und länger erweitertes Bewußtsein erfahren. Beinahe alle Meditierenden werden bezeugen, daß die Einsicht, die aus diesem Geisteszustand erwächst, sich in ihrem Leben sehr segensreich auswirkt. Während viele Lehrer den Wert gewohnheitsmäßiger Übungen betonen, verlangen die meisten mystischen Traditionen von einem Schüler feste Zeiten vollkommenen Eintauchens in die spirituelle Praxis. Diese Zeit ist gänzlich der ernsthaften Übung gewidmet und dauert von einigen Tagen bis zu einigen Monaten – sieben bis zehn Tage im Durchschnitt.

Warum legen Mystiker einen derartigen Wert auf spirituelle Einkehr? Weil sie ein unentbehrliches Geheimnis der Umwandlung entdeckt haben: obwohl ein Quantensprung zu einer neuen Seinsebene immer durch Gnade geschieht, können wir unsere Empfänglichkeit für die Gnade erhöhen, wenn wir uns ohne Ablenkungen konstanter spiritueller Praxis hingeben. Insofern birgt jede Einkehr ein erhöhtes Potential in sich und wird zu einem Sprungbrett zu einem neuen Gewahrsein.

Der Weg der Stille

»Die Sprache Gottes ist Stille. Alles andere ist schlechte Übersetzung.« sagte Vater Thomas Keating in einem kürzlich erschienen Artikel über Beten in Amerika. Die Mystiker aller Traditionen sagen, daß wir in unserer spirituellen Praxis oft mehr durch stilles Sitzen erreichen als durch Rituale und Gebete. Im 17. Jahrhundert legte Jakob Böhme dies wunderbar mit folgenden Worten dar: »Wenn Du ruhig oder still bist, dann bist Du das, was Gott war, bevor Natur und Kreatur geschaffen war und woraus er Natur und Kreatur schuf. Dann hörst und siehst Du, was Gott in Dir sah und hörte, bevor Dein eigenes Wollen, Sehen und Hören begann.«

Wir Menschen schlagen den spirituellen Weg ein, weil wir das Bedürfnis in uns haben, uns ständig zu vervollkommnen. Die Menschen haben über die Zeit hinweg tausende von Methoden angewandt, um ein höheres Bewußtseinsstadium zu erreichen, aber ein Verfahren auf dem Weg der Erleuchtung änderte sich nie: innere Stille und spirituelle Einkehr. Warum gerade diese Praxis? Wie Böhme aussagte: »In einer Viertelstunde sah und wußte ich mehr, als wenn ich viele Jahre an einer Universität gewesen wäre. Denn ich sah und kannte das Sein aller Dinge … durch das göttliche Wissen.«

Spirituelle Einkehr entdecken

Meine eigene Erfahrung ist, daß sich Zeiten der Stille und Abgeschiedenheit ausnahmslos auf meinen Bewußtseinszustand auswirken und zu wichtigen Einblicken führen. Einige Zeiten der Einkehr waren bedeutungsvoller als andere. Manche änderten mein Leben. Aber alle waren förderlich – selbst die, die schmerzhaft und anstrengend waren. Als Ergebnis wurde spirituelle Einkehr zu meiner wichtigsten Praxis, und seit Mitte der siebziger Jahre begebe ich mich mehrmals im Jahr in spirituelle Einkehr, normalerweise eine Woche, manchmal auch vierzig Tage oder mehr.

Zunächst wurde ich durch das, was ich las, eingeschüchtert: Ich hatte das Gefühl, daß ich nicht auf genug Erfahrung in der Meditation zurückgreifen könnte. Ich dachte, es würde schrecklich langweilig sein, allein und ruhig eine längere Zeit zu verbringen. Und vor allen Dingen war ich sicher, daß ich bei meinem vollen Terminkalender niemals Zeit dazu hätte. Bald entdeckte ich, daß niemand eine besondere Übung benötigt, um zu beginnen – die Stille selbst ist eine großartige Lehrerin. Und als ich einmal die Prinzipien der spirituellen Einkehr verstanden hatte, war ich selten gelangweilt und fühlte oft, daß jede Minute der Einkehr wundervoll war, daß die Tage in Wirklichkeit viel zu schnell vergingen.

Zeit zu finden, um mich zurückzuziehen, war immer ein Problem, aber es wurde mehr zu dem, was ein Lehrender den »spirituellen Imperativ« nannte: Je mehr wir unseren inneren Durst spüren, desto mehr sind wir gewillt, notwendige Opfer und Kompromisse zu machen, um Zeit für uns zu nehmen. Wir finden Wege, Vereinbarungen mit unseren Lieben und Vorkehrungen für unsere Kinder zu treffen, uns zeitweise von der Arbeit zu befreien, Verwalter für unsere anderen Verpflichtungen zu finden und eine Zeit zu bestimmen, in der wir all unsere Aufmerksamkeit’ der inneren Arbeit widmen.

Spirituelle Einkehr ist oft schwierig. Sie ist kein Urlaub. Sie dient nicht der Entspannung – wir nehmen nicht viel zum Lesen mit, wir sehen nicht fern oder hören Radio. Wir sitzen ruhig und widmen die meiste Zeit unseres Wachzustands einer Praxis, wie immer sie auch sein mag. Es ist nicht ungewöhnlich achtzehn Stunden pro Tag einzukalkulieren. Weshalb würden wir so etwas tun? Weil, einmal den süßen Nektar der inneren Stille wahrhaft gekostet, gibt es wenige Erfahrungen im Leben, die vergleichbar wären.

Einkehr im eigenen Haus

Viele Menschen erkennen nicht, daß der natürlichste Ort, um sich zurückzuziehen, das eigene Zuhause ist. Wir neigen dazu, uns in den Wald oder die Berge zurückzuziehen. An einen isolierten und romantischen Ort, z.B. eine Blockhütte an einem Fluß. Das sind schöne Gedanken, und wenn jemand einen solchen Ort hat, umso besser. Aber, ein kleiner Raum im Haus, mit einer Tür für Ungestörtheit, ist alles, was wir brauchen. Manchmal ist es unmöglich, auch nur einen kleinen Bereich des Privatlebens einzurichten. Dann müssen wir das Haus verlassen, vielleicht um als Gast in einem Kloster oder einem Zentrum zu sein. Aber ein Raum in der Wohnung eines Freundes oder ein gemieteter Raum reicht genauso. Es ist hilfreich, einen Lehrer oder Führer zu haben, der unsere Einkehr begleitet. Aber wir können auch alleine beginnen, sobald wir die grundlegendsten Gesetzmäßigkeiten der spirituellen Praxis verstanden haben. Auf meinem eigenen Weg habe ich vier Grundlagen erkannt: Läuterung, Konzentration, Bestreben und Beherrschung. Läuterung bedeutet die innere Last zu verringern – das konstante mentale Geschwätz, »Affenhirn« genannt. Konzentration heißt lernen, unsere Aufmerksamkeit auf einen Punkt zu sammeln und Klarheit im Denken zu erreichen. Bestreben ist mit unserem aktiven Willen verbunden, der uns zur Aufgabe zieht – es ist verknüpft mit dem »spirituellen Imperativ«. Beherrschung ist ebenfalls mit dem Willen verbunden. Es ist der Teil in uns, der fähig ist, Abschweifung zu widerstehen, unsere Fähigkeit, Nein zu sagen, und er ist mit dem höchsten inneren Sein verknüpft. Diese vier Elemente sind nicht nur entscheidend für die spirituelle Arbeit, sie bilden die wichtigsten Grundlagen für Erfolg im täglichen Leben. Die Wahrheit ist, daß spirituelle Einkehr weit mehr bewirkt, als uns von einer Ebene des spirituellen Weges zur anderen zu bringen. Sie steigert die Qualität unseres Lebens enorm.

Durch Einkehr unser spirituelles Wachstum vertiefen

Innere Einkehr ist ein Vergrößerungsglas, das all unsere spirituellen Bemühungen in einen konzentrierten Strahl bündelt, durch den Schleier unserer Selbst-Täuschung brennt, unsere Bewußtwerdung entzündet, unsere Seelen mit spiritueller Leidenschaft und universeller Liebe entflammt. Dies gilt für den Anfänger, der oft erstaunt ist, eine prachtvolle Welt im Innern zu entdecken. Und es gilt für die fortgeschrittenen Meditierenden, die tiefere Einsicht in die Natur des Kosmos und die Wirkungsweise unseres Geistes erlangen.

Rabbi Abraham Isaac Kook, ein bekannter jüdischer Mystiker, der vor ungefähr fünfzig Jahren starb, sagte: »Ein Mensch mit strahlender Seele muß sich regelmäßig in Abgeschiedenheit zurückziehen. Die ständige Anwesenheit anderer Menschen, die meist in ihrer Spiritualität im Vergleich mit ihm unreif sind, dämpft das Licht seiner Seele.« Selbst Gandhi, auf seiner höchstentwickeltsten Stufe, zog sich regelmäßig zurück und nahm sich einen Tag der Stille in der Woche: »Ich begann mit meinem wöchentlichen Tag der Stille, um Zeit für meine Korrespondenz zu haben. Mittlerweile sind diese vierundzwanzig Stunden ein lebenswichtiges spirituelles Bedürfnis geworden. Eine periodische Verurteilung zu Stille ist keine Tortur, sondern ein Segen.«

Stille als eine große Heilerin

Stille und Zurückgezogenheit ist nicht nur ein Weg spiritueller Entwicklung, es ist eine der durchdringendsten Quellen der Heilung, die für uns verfügbar ist. Vor über fünfzehnhundert Jahren sagte Abbot Pastor, einer der »Wüstenväter«: »Jedwede Herausforderung, die Dir widerfährt, kann durch Stille überwunden werden.« Wir mögen argumentieren, daß diese Aussage zu verallgemeinernd ist, aber sie ist immer noch anwendbar auf eine große Anzahl persönlicher Belange und Probleme wie auch auf unsere mentale Gesundheit und Wohlergehen.

Wann immer wir für einen Moment innehalten und versuchen, den kleinen stillen Ton unserer inneren Stimme zu hören, werden wir überrascht sein über die Menge an innerer Bewegung, die konstant unser Gemüt aufwühlt. Dieser unendliche Gedankenfluß wirkt sich auf unseren Allgemeinzustand stärker aus, als wir uns vorstellen können. Wir entdecken seine gesamte Auswirkung, wenn wir über eine längere Zeit ruhig sitzen können. Wenn der mentale Vorgang sich verlangsamt und wir entdecken, wie sehr unsere Wahrnehmung durch unseren gewöhnlichen unruhigen Gemütszustand getrübt ist, verjüngt sich jeder Aspekt unseres Lebens: Farben erhalten neue Schwingung, Düfte werden exquisit, Essen erscheint vorzüglich, unsere Herzen öffnen sich mit enormen, liebendem Mitgefühl und wir erfahren tiefer als jemals zuvor die wunderbare Wahrheit der Natur, die sich in jedem Augenblick offenbart.

 

Quellenhinweis:

Science 0/ Mind-Magazin, Ausgabe 9/92
übersetzt durch Brigitte K. Schneider